Im redaktionellen Bereich gibt es einen Kodex: Ein Foto darf nicht verändert werden, sondern muss realitätsgetreu belassen werden. Diese Definition ist natürlich relativ schwammig. Prinzipiell heisst das: Retuschen sind bereits Veränderungen. Ein Muttermal oder ein Fältchen aus dem Gesicht zu entfernen, geht nicht. Dasselbe gilt für ein Bild an der Wand oder einen Abfalleimer. Ein Bild zu spiegeln ist ebenfalls tabu.
Ich orientiere mich bei der Bandbreite des Erlaubten grundsätzlich an der analogen Fotografie: Was konnte man dort bereits anpassen? Helligkeit, Farbe, Kontrast sowie allgemeine Qualitätsoptimierungen sind sicher im Rahmen. Danach entscheide ich situativ.
In der Auftragsfotografie für Kunden ausserhalb von Medienerzeugnissen bin ich grundsätzlich lockerer. Als Dienstleisterin geht es für mich darum, dass es für den Kunden oder die Kundin stimmt. Da mache ich den Pickel im Gesicht natürlich weg. Ohnehin wird vor einem solchen Shooting jeweils vereinbart, wie stark ich bearbeiten soll oder darf. Dabei möchte auch ich hinter meiner Arbeit stehen können. Deshalb kann es auch vorkommen, dass ich im Vorgespräch etwas bremsen muss. Wenn jemand auf dem Foto zehn Jahre jünger aussehen will, ist das natürlich problematisch. Das kommt aber selten vor.
Was ich beobachte: Männer sind eher von sich selbst überzeugt und wohl daher etwas lockerer und grosszügiger mit ihrem Abbild. Frauen erlebe ich als viel selbstkritischer. Sie lassen ihre Bilder eher stärker bearbeiten oder retuschieren. Aber auch Männer sind mal ganz froh um eine schmeichelhafte Retusche. Ganz generell ist es beim Fotoshooting wie im richtigen Leben: Manche Menschen harmonieren zusammen besser als andere. Wichtig ist mir, eine angenehme Stimmung zu schaffen, damit sich die abgebildete Person möglichst wohl fühlt.
Ich durfte vor einigen Jahren einen bekannten Schriftsteller für das Magazin INLINE porträtieren. Dieser sagte mir beim Shooting etwas wunderbares: «Selbst wenn das Foto von mir scheisse aussieht: jeder von uns hat solche Seiten. Diese gehören zu mir wie meine guten Seiten, man muss sie genauso akzeptieren können und auch sehen dürfen.» Diese offene und ehrliche Aussage bleibt mir in guter Erinnerung.