Nach nur wenigen Tönen eröffnet sich dem inneren Auge des Zuhörers ein prächtiges Bergidyll mit blühender Bergwiese, Sicht auf Tal und verschneite Berge, am Horizont die aufgehende Sonne. Die Klänge, die dieses Bild hervorzaubern, kommen aus dem Mund von Dayana Pfammatter Gurten, die mit diesem Jodel das Abschlusskonzert ihres Masterstudiums eröffnet. Das Lied des bekannten Schweizer Komponisten Markus Flückiger trägt den passenden Namen «Morgeröti». Der elegante Saal Salquin der Hochschule Luzern – Musik mit seiner modern-kühlen Architektur steht im Kontrast zum volkstümlichen Programm. Der Stimmung tut dies keinen Abbruch. Überhaupt erreicht das Jodeln schon länger auch Bühnen ausserhalb der Volksmusikszene. Die Gesangskunst hat sich emanzipiert.
Davon zeugt, dass die Hochschule Luzern seit 2018, als erste Schweizer Fachhochschule, Jodeln im Hauptfach anbietet. Und Dayana ist die erste Absolventin des Masterstudiengangs. Entsprechend gross ist auch das Medieninteresse: Bereits die Tagesschau und viele Print- und online-Medien haben über die «erste Jodlerin mit Masterabschluss» berichtet. Ein Abschluss mit Auszeichnung, wohlgemerkt. Sozusagen mit «Summa cum laude».
Die öffentliche Aufmerksamkeit ist sicher nicht ungünstig. Bekanntheit belebt das Geschäft. Dennoch sucht Dayana nicht unbedingt das mediale Rampenlicht. Beim Jodeln geht es für sie um Authentizität statt um Show. Bodenständig ist sie als Person. Sie stammt aus einem Walliser Bergdorf, die Familie ist zum Nebenerwerb in der Landwirtschaft tätig. Das Jodeln und die Volksmusik aber begleiten sie seit der Kindheit. Ihr Vater war Gründungsmitglied und ihr Grossonkel Dirigent des Jodlerklubs Safran in Mund, oberhalb von Brig. «Wir hatten immer einen musikalischen Haushalt, das Jodeln und das Schwyzerörgeli haben uns ständig begleitet, auch im Auto haben wir Kassetten gehört», erzählt sie. Zusammen mit ihrer Schwester bildet sie bis heute ein Duett, das bereits auf vielen namhaften Volksmusikbühnen aufgetreten ist. «Wenn man in dieser Umgebung aufwächst ist man bereits früh auf den Bühnen und kann so einen Rucksack reich füllen.»
Bei ihrem Abschlussrezital an der Hochschule ist Dayanas Bühnenroutine spürbar. Ihr Programm präsentiert sich als musikalischer Rundflug über die Schweizer Jodellandschaft. Geprägt durch Naturjodel aus verschiedenen Regionen, darunter dem Muotatal und sogar aus ihrer Walliser Heimat. «Obwohl das Wallis eigentlich keine eigene Naturjodeltradition kennt», wie sie erklärt. Begleitet wird sie abwechselnd von einem Streichquintett, von ihrem Ehemann Marco Gurten am Schwyzerörgeli, am Flügel von Nadia Carboni, als auch von ihrer guten Kollegin Maritta Lichtensteiger im Duett.
Einen Höhepunkt bildet mitunter ihre Eigenkomposition «Üstag» («Frühling»), die sie mit den Streichquintett vorträgt. Was auffällt: Sie wechselt je nach Lied nicht nur den Stil, sondern auch den Dialekt.
Diese Authentizität ist ihr äusserst wichtig, entsprechend minutiös hat sie sich in die Eigenheiten eingearbeitet: «Der Dialekt prägt die Vokalisation und Sprache eines Stils, weshalb ich genau hinhören muss, wie nun ein O oder ein E gesungen wird.» Aus dem Muotatal habe sie das grösstmögliche Kompliment erhalten, «als mir jemand sagte, ich klinge genau wie eine von ihnen».
Das Jodeln ist in der Schweiz eine von Laien geprägte Kunstform, die weitestgehend als Hobby und zum Ausgleich ausgeübt wird. Die Organisation läuft vornehmlich über Vereine (siehe Box), zentrales Organ ist der Schweizerische Jodlerverband (EJV). Deutet die neue FH-Ausbildung auf eine Professionalisierung hin? «Eine Professionalisierung findet statt», sagt Dayana, «allerdings eher auf der Lehrstufe». Also im Sinne einer guten Laienchorausbildung, aber auch zugunsten der Weiterentwicklung der Tradition. Der EJV bietet Dirigierkurse oder Juryausbildungen an und stellt somit sicher, dass das Know-how erhalten bleibt. «Dazu braucht es gute Leute, die ein fundiertes Wissen weitergeben können.» So ist Dayana beim Bernisch-Kantonalen und beim Westschweizer Jodlerverband (Unterverbände des EJV) als Hauptkursleiterin der Chorleiterausbildung tätig. «Das Jodeln an sich aber ist und bleibt eine Amateur- und Laientätigkeit», wie sie anfügt. «Menschen singen aus Spass und Freude, als Hobby und zum Ausgleich.» Als «Profi» sei ihr wichtig, sich nicht über andere zu stellen, sondern ihr Wissen auf Augenhöhe weiterzugeben.
So gesehen werde das Hauptfach Jodeln wohl ein Nischenstudium an der FH bleiben. Und doch ist es auch die Konsequenz eines Booms der letzten Jahre. Schweizerinnen und Schweizer besinnen sich ihrer Traditionen. Das Jodeln ist beliebt wie kaum zuvor. Ähnlich wie beispielsweise der Schwingsport, der in den letzten Jahren eine riesige mediale Aufmerksamkeit geniesst. Dayana erklärt: «Alles ist sehr schnelllebig und hektisch geworden, weshalb die Leute zu ihren Wurzeln zurückkehren und in sich gehen.» Das Jodeln mit seinem archaischen, obertonreichen Klang treffe den Nerv der Zeit. «Die Leute suchen Körperverbundenheit, die sie in der Arbeit mit der Stimme finden. Es ist ähnlich wie beim Yoga.» Achtsamkeit und Jodeln gehen Hand in Hand.
Körperarbeit und -verbundenheit sind auch für Dayana zentral. Schliesslich ist die Stimme das Instrument, und dem trägt man Sorge. «Mein Körper bedeutet mir in dieser Hinsicht sehr viel», erklärt sie, «ich mache bewusst und gerne Dinge, die ihm gut tun.» So ist sie in der Freizeit viel in der Natur, macht Sport, geht Wandern, im Winter auf Skitouren. Auch Yoga zählt zum Programm.
Pflege und der Schutz der Stimme sind ebenfalls unabdingbar. Bei der Jodlerin wie bei einer Opernsängerin. «Ich muss darauf achten, dass mein Instrument – die Stimme gesund bleibt!» Nicht immer einfach, wenn sie an Unterrichtstagen ihre Stimme acht bis neun Stunden benutzt, daneben häufig Konzerte gibt. Umso mehr muss sie sich achten und schonen, bestmöglich gesund bleiben und sich nicht erkälten. Dayana meidet kalte Getränke ebenso wie grössere Mengen Kaffee oder Alkohol. Rotwein trocknet die Schleimhäute aus, weshalb sie wenn dann eher Weisswein trinkt. Zugluft ist Gift. Auch aktiv unternimmt sie einiges für die Stimmhygiene und -pflege: Ihre Schleimhäute befeuchtet sie durch Inhalationen. Und sie nutzt Lax Vox, ein System zum Stimmtraining, das mit Schlauch und Wassergefäss funktioniert und auf das viele Sänger:innen schwören.
So beliebt das Jodeln heute ist, das traditionelle Bild dieser Kunstform hat sich kaum verändert. So wird sie noch immer mit der heilen Heidi-Bergwelt und Folklore assoziiert. Ein Image, das Dayana nicht grundsätzlich stört. «Ich bin in dieser naturnahen Bergwelt aufgewachsen und kann diese Verbindung selber gut nachvollziehen», sagt sie. «Auch für mich gehören Natur, Berge und Jodeln zusammen. So betrachtet ist dieses Klischee für mich stimmig und kein Konstrukt.» Und wenn das Jodeln in der Aussensicht mit typisch Schweizerischem wie Schoggi, Käse und Berge zu einem Bild zusammengefügt oder gar so vermarktet wird, kann sie damit leben. «Ich empfinde nicht, dass uns damit Unrecht getan wird.»
Was nicht heisst, dass Dayana nicht auch die Schattenseite dieses wohl behüteten Erscheinungsbildes kennt. Denn Klischees werden dadurch auch zementiert, weshalb leicht untergeht, dass sich das Jodeln durchaus weiterentwickelt. Als Kunst gibt man sich mit dem Status quo längst nicht mehr zufrieden. «Man blickt heute über den Tellerrand hinaus, die Jodlerszene wandelt sich und ist an einem ganz anderen Ort als vor 50 Jahren.» Dazu zählt auch, dass Dayana in ihrem Abschlussrezital mit klassischen Musikern zusammengearbeitet hat. Überhaupt ist Crossover mit Volksmusik und Jodel in der Musikszene schon lange verbreitet und erlebte in den letzten Jahren ebenfalls einen Aufschwung. Das wird auch von Protagonist:innen der Jodelszene aktiv gesucht und gefördert. «Die Szene selber klammert sich längst nicht nur an das Raclette- und Berge-Image. Dies wird schon etwas zu wenig wahrgenommen.»
Etwas unverstanden fühlte sich die professionelle Jodlerin manchmal auch, wenn sie ihr Studium erklären musste. Unter anderem wurde sie gefragt, was das Studium überhaupt für einen Zweck habe. Dass es nicht bedeute, «einfach den ganzen Tag zu Jodeln», war ebenfalls nicht allen im Umfeld klar. So macht das Hauptfach nur den kleineren Teil des Studieninhalts aus. «Es ist mir sehr wichtig, solche falschen Bilder zu korrigieren», sagt sie. Die Grundfächer, die im Profil Klassik vermittelt werden, waren für Dayana als Kompetenz- und Horizonterweiterung im Bachelorstudium zentral, beispielsweise Komposition, Musiktheorie, oder auch Musikgeschichte. «Genau dieses Basiswissen wollte ich mir in erster Linie aneignen.» Hier gilt zu erwähnen, dass im Musikstudium, anders als in den meisten FH-Fachbereichen, der Bachelor als Grundlagenstudium dient, während der Master erst berufsbefähigend ist. Daher ist für ein volles FH-Studium der Masterabschluss zwingend. Insgesamt dauert das Studium dann fünf Jahre, drei im Bachelor, zwei im Master.
Der Master in Musikpädagogik, Hauptfach Jodeln, war für Dayana die Kür und der Höhepunkt des gesamten Studiums, wie sie es beschreibt. Neue Impulse, etwa zur Fachdidaktik, zur Arbeit mit der Stimme, gerade in Zusammenhang mit Schüler:innen, sog sie dankbar auf. «Fächer, die ich mir eigentlich schon früher im Studium gewünscht hätte.» Dass sie als erste Jodel-Absolventin auch ein wenig als Versuchskaninchen diente, ist ihr bewusst. «Das hat Vor- und Nachteile.» Die Aufmerksamkeit ist sicher ein Plus. Und wer sagt schon Nein zu Inputs des international erfolgreichen Komponisten Dieter Ammann. «Sein Name und seine grosse Erfahrung machen es spannend.» Hingegen dürften für Dayana durchaus auch mehr Impulse von prominenten Volksmusikern ins Studium einfliessen, «anhand denen ich mich stärker hätte weiterentwickeln können». Auch in Sachen Herkunft und Geschichte des Jodelns allgemein dürfte der Studiengang zulegen, wie sie sagt. Aber ihr ist auch bewusst: «Das Studium steckt eben noch in den Kinderschuhen.»
Dank dem Master of Arts in Musikpädagogik kann Dayana nun ihre bereits vielfältige Lehr- und Ausbildungstätigkeit mit einem FH-Diplom untermauern. Der Hauptgewinn dabei ist die Arbeit in musikalischem Neuland im Profil Klassik: «Das war für mich auch eine Herausforderung, die ich in der Volksmusikwelt so nicht angetroffen hatte.» Im Sinne einer progressiven Arbeit in der Volksmusik hat Dayana stark profitiert. Denn die konstante Weiterentwicklung sieht sie als essenziell, damit die Tradition lebendig bleibt.
Masterabschluss hin oder her – in der Volksmusikszene ist Dayana Pfammatter Gurten schon länger eine Kapazität. Davon zeugen ihre vielfältigen Tätigkeiten – nebst ihren Auftritten – als eidgenössische Jurorin an Wettbewerben, als Ausbildnerin, Chorleiterin, sowie mit ihrem Unternehmen «Klangwärch». Hier bietet sie Einzel- und Gruppenunterricht, Stimmbildung aber auch Jodeln mit Yoga oder andere Special-Workshops an. Über mangelnde Nachfrage kann sie sich nicht beschweren. Ende März musste sie sogar ihren ursprünglich gelernten Beruf als Pharma-Assistentin in einer Spitalapotheke, den sie in Teilzeit ausübte, an den Nagel hängen. «Mir war bisher immer wichtig, daneben etwas Sicheres zu haben.» Und sie mochte ihren gelernten Beruf. «Doch die Nachfrage hat mich einfach überrannt in letzter Zeit.» Das Studium und die Aufmerksamkeit dadurch hat sicher seinen Teil dazu beigetragen, dass aus dem Hobby ein Vollzeitjob geworden ist. Ein Glück, dem Dayana noch nicht ganz über den Weg zu trauen scheint: «Ich weiss ja nicht, wie es in zwei Jahren aussieht, aber gehe das Risiko jetzt einmal ein.» Bei aller Freude über das Interesse ist ihr der Respekt anzusehen. «Mit der ‹Selbst›-ständigkeit gilt es nun gute Strukturen finden für die Planung und Administration.»
Tauschen möchte sie aber nicht. Auch nicht gegen eine Vollzeit-Konzerttätigkeit. Die Pädagogik möchte sie nicht missen. «Ich bin gerne Musiklehrerin, und Kinderstimmbildung ist ein neues, spannendes Feld, das sich mir eröffnet hat.» Der Mix ist ideal.
In der Schweiz gibt es über 12 000 Jodlerinnen und Jodler, die einer der 780 Gruppen des Eidgenössischen Jodlerverbandes angehören. Als lebendige Tradition könnte das Jodeln nun in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen werden. Die Schweiz hat am 2. April eine entsprechende Kandidatur bei der UNESCO eingereicht, die voraussichtlich bis Ende 2025 geprüft wird.
Das Jodeln sei fest in der Bevölkerung verankert, schreibt dazu das Bundesamt für Kultur (BAK). Dennoch brauche es Engagement, «um den Jodelgesang weiterzuentwickeln und für künftige Generationen zu erhalten». Unter anderem sind Aktionen zur besseren Vernetzung der Schweizer Jodelszene geplant, neue Aus- und Weiterbildungsangebote, Nachwuchsförderung sowie ein Ausbau der Forschung