Wisst ihr, was Treber genau ist? Wir zumindest wussten es nicht vor unserem Treffen mit den drei innovativen Köpfen von ProSeed, Giulia Lécureux, Aurélien Ducrey und Mateo Aerny. Mit Treber bezeichnet man die bei der Bierherstellung anfallenden Rückstände des Braumalzes. Dieses eiweissreiche Abfallprodukt wird traditionellerweise als Viehfutter verwertet oder ganz einfach weggeworfen. In den letzten Jahren hat das Umweltbewusstsein in der Schweizer Bevölkerung stetig zugenommen und auch die Welt der Startups erfasst, die dem Zeitgeist entsprechend beispielsweise Lösungen zur Verhinderung von Food Waste entwickeln. So hat sich ProSeed zum Ziel gesetzt, für diese wertvollen Proteine einen neuen Verwendungszweck zu suchen, vor allem im Backwarenbereich.
Bevor sich ihre Wege kreuzten, hatten Giulia Lécureux, Aurélien Ducrey und Mateo Aerny International Business Management an der Haute École de Gestion in Genf (HEG-GE), Life Technologies mit Spezialisierung in Lebensmitteltechnologie an der HES-SO Wallis beziehungsweise Mikrotechnik an der Haute École d’Ingénierie et de Gestion des Kantons Waadt studiert. Zwei Ingenieure und eine Betriebswirtschafterin also – eine Mischung, die Mateo Aerny gerne als «typisches FH-Produkt» bezeichnet. Nach Abschluss des Bachelor-Studiums und – für einige – einem kurzen Abstecher in ihre jeweilige Berufswelt nahmen alle drei 2019 den Innokick-Master (Integrated Innovation for Product and Business Development) an der HES-SO in Renens in Angriff. Dieses Studium «ermöglicht es den Studierenden aus den Bereichen Ingenieurwissenschaften und Architektur, Wirtschaft und Dienstleistungen sowie Design und bildende Künste, die notwendigen interdisziplinären Kompetenzen zu erwerben, um innovative Produkte und Dienstleistungen zu schaffen und sie erfolgreich zu vermarkten». «Der Studiengang dauert zwei Jahre», erklärt Giulia Lécureux. «Im ersten werden in verschiedenen Kursen die Grundlagen für die Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit vermittelt. Im zweiten Jahr wird im Rahmen einer Masterarbeit ein Projekt entwickelt.» Diese Arbeit wollten sie zu dritt machen.
Was hat sie dazu bewogen? Bereits im ersten Teil des Innokick-Lehrgangs, der dem Wettbewerb unter den Studierenden einen grossen Stellenwert beimisst, hat das Trio Gruppenarbeiten zusammen ausgeführt. Die Idee, den Treber aufzuwerten, hat schliesslich den Anstoss zu diesem gemeinsamen Masterprojekt gegeben. Erneut spielte Innokick dabei indirekt eine entscheidende Rolle: «Die Räumlichkeiten des Innokick-Masters befinden sich über der Brauerei Nébuleuse in Renens», erzählt Aurélien Ducrey. «Häufig sahen wir einen Lastwagen, der den Treber abtransportierte.» Nach einem Gespräch mit dem Bierbrauer nahm das Konzept langsam Gestalt an.
«Wir hätten uns damit begnügen können, nur für diese Brauerei eine Lösung zu finden», ergänzt Giulia Lécureux. «Doch wir besuchten weitere Brauereien und stellten fest, dass das in der ganzen Branche ein Problem war. Deshalb haben wir entschieden, in etwas grösseren Dimensionen zu denken.» So entstand die Idee des Startups, ein Format, für das sich Innokick besonders gut eignet: «Im Unterschied zu vielen anderen Studiengängen dieser Art bleiben wir Eigentümer des Konzepts, das wir im Rahmen des Masters entwickelt haben. Das ist essenziell, wenn man etwas aufbauen will.» Doch schon bald stellte sich das Problem der Arbeitsmittel. Der Master liefert ihnen keine Arbeitsgeräte im technischen Sinn. Daher mussten sie ein privates Labor mieten, das sie mit der Hilfe eines Mäzens finanzierten.
Verlaufen die geschäftliche und die technische Entwicklung des Projekts im Gleichschritt? «Ja», bestätigen sie, «alles geschieht immer parallel.» Während sie einen Prototypen entwickeln, nehmen sie an Pitch-Wettbewerben teil, treffen sich mit Branchenvertretern, deren Ermutigungen sie als wertvoll erachten, und führen Marktstudien durch. All das, um die sogenannten «drei Säulen» zu erproben, die für den Erfolg ihres Unterfangens ausschlaggebend sein werden: die Wünschbarkeit, die technische Machbarkeit und schliesslich die wirtschaftliche Rentabilität. Obwohl jedes Teammitglied über spezifische Kompetenzen verfügt, beschränkt es sich nicht darauf, wie Mateo Aerny bemerkt: «Alle machen alles.»
Ist es dieser Wettstreit, der die Jungunternehmer motiviert? Unter anderem, aber nicht nur. Ihre Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Für Giulia Lécureux ist es hauptsächlich der Innovationsaspekt, der Wunsch, «etwas zu erschaffen», während Mateo Aerny «die Unabhängigkeit» hervorhebt, die das spezielle Modell des Startups bietet und es ihnen ermöglicht, von den in der Nahrungsmittelindustrie üblichen Prozessen abzuweichen. «Alles selbst machen», nur so kann man es anders machen. Diese Idee der Unabhängigkeit, der Freiheit und der Kreativität erachtet Aurélien Ducrey bei diesem Vorhaben als zentral: «In der Gesellschaft und in unserem Umfeld etwas bewirken. Etwas für unseren Planeten tun.» Obwohl ProSeed eine wirtschaftliche Logik verfolgt, scheint das Startup in der Vorstellung seiner Gründer somit von einer nahezu «engagierten» Vision des Unternehmertums beseelt zu sein.
Welches sind aus heutiger Sicht die kurz- und mittelfristigen Perspektiven von ProSeed? Dank der kürzlich erhaltenen Unterstützung des Förderprogramms First Ventures der Gebert Rüf Stiftung in der Höhe von 150 000 Franken können sie sich endlich vollständig diesem Projekt widmen und sich Löhne auszahlen. Im Moment arbeiten die drei in den Räumlichkeiten der HES-SO in Sitten, wo Aurélien Ducrey seinerzeit seinen Bachelor absolviert hat: «Erst kürzlich wurde an dieser Schule, die im Bereich der Lebensmitteltechnologie in der Schweiz führend ist, ein neuer Campus eröffnet.» Das First-Ventures-Stipendium der Gebert Rüf Stiftung wurde ihnen nur unter dieser Voraussetzung gewährt. Das Material und die Infrastruktur werden ihnen von der Schule zur Verfügung gestellt, die sie im Rahmen des Programms Entrepreneur-e-s HEI ausserdem fachlich und finanziell unterstützt.
Heute entwickeln sie zusammen mit einem Walliser Backwarenunternehmen neue, gesunde Produkte, treiben ihr Projekt voran und hoffen, demnächst ihren Wirkungskreis über das Wallis hinaus auf die ganze Schweiz ausweiten zu können, um die grossen, in den Brauereien dieses Landes angefallenen Mengen an Treber zu nutzen. Unterstützt werden sie dabei von Pulse Incubateur. Das Förderzentrum stellt ihnen nicht nur Büros in Genf zur Verfügung, sondern lässt sie während eineinhalb Jahren an einem Coachingprogramm teilnehmen, um sie auf kommerzieller Ebene weiterzubringen. Das Trio scheint somit eine rosige Zukunft zu erwarten: Langfristig will es in andere Länder expandieren und sich an die Produktionsverhältnisse jeder Region anpassen, im lokalen Wirtschaftsgefüge Fuss fassen und, wie uns Mateo Aerny erklärt, auch andere Abfälle zum Beispiel aus der Ölherstellung oder von Obstkulturen verwerten. Auf die Frage, wohin genau die Expansion ProSeed in Zukunft führen könnte, meint Aurélien Ducrey mit einem Lächeln: «Überall hin.»
Dieser Artikel erschien als Erstpublikation im Magazin INLINE auf Französisch sowie in der deutschen Übersetzung in der Mai-Ausgabe.