Die Digitalisierung schreitet zügig voran und dringt in praktisch alle Lebensbereiche vor. 88 Mal pro Tag wird heute das Smartphone eingeschaltet: 35 Mal, um Nachrichten zu verschicken und 53 Mal, um zu surfen. Gleichzeitig scheint das Bedürfnis nach mehr Offline-Zeit zu wachsen. Immer mehr Menschen löschen ihre Social-Media-Accounts und nehmen sich bewusst eine Auszeit von ihrem Smartphone. Digitale Entziehungskuren boomen. Ist eine Abkehr von der digitalen Transformation tatsächlich möglich? Wird das neue Digital analog? Diese und andere Fragen standen im Mittelpunkt des Schweizer Bildungsforums der Fachhochschule St.Gallen (FHS) vom vergangenen Donnerstag, 21. März 2019, in St.Gallen.
Wie bereits im vergangenen Jahr setzten die Organisatoren auf zwei Podien: Zum einen diskutierten Expertinnen und Experten an einem Tisch, zum anderen Studierende der drei St.Galler Hochschulen. Moderiert wurde das Expertenpodium von Stefan Paulus, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler an der FHS, und das Studierendenpodium von Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler. Das Thema des Bildungsforums stiess auf grosses Interesse, der St.Galler Pfalzkeller war gut besetzt. «Die Digitalisierung findet statt», sagt FHS-Rektor Sebastian Wörwag, «aber wir sollten sie nicht einfach nur geschehen lassen.»
Mark Riklin ist Soziologe. Er hat einen E-Mail-Account, aber kein Smartphone. Er lasse das weg, worin er für sich keinen Mehrwert sehe, sagt er. Damit kann Philosoph Philipp Tingler wenig anfangen. «Wir können uns von der Digitalisierung nicht abwenden, wir müssen uns damit befassen.» Im Umgang mit Robotern oder künstlicher Intelligenz stelle er je länger je mehr eine «Wertekonfusion» fest. Viele würden mit der digitalen Alexa zu Hause im Dienstbotenton sprechen. Das beeinflusse das gesellschaftliche Leben. «Der Mensch neigt nämlich dazu, dann auch mit Menschen im Imperativ zu sprechen.» Weshalb also Roboter nicht auch höflich behandeln, fragt Philipp Tingler. Das sich dies positiv auf den Umgang mit anderen auswirken würde, ist sich auch Medienwissenschaftlerin Sarah Genner sicher. Sie betonte, wie wichtig gerade im digitalen Zeitalter soziale Kompetenzen wie Kreativität und Problemlösefähigkeit, Respekt und Gerechtigkeit seien.
Mark Riklin wünscht sich, dass vor allem in der Bildung mehr Platz geschaffen werde, um soziale Kompetenzen zu fördern. «Hirn und Hand müssen wieder mehr verbunden werden.» Als positives Beispiel nennt er den Maker Space, ein Projekt für kollaboratives Arbeiten mit analogen und digitalen Technologien. Für Philipp Tingler ist es nicht die Kreativität, die den Menschen von der künstlichen Intelligenz unterscheidet. «Es ist vielmehr das Vermögen, von sich selber zurücktreten zu können und sich zu reflektieren.» Die grösste Herausforderung ist seiner Meinung nach: «Mehr über uns und unseren Geist zu erfahren, bevor es die Algorithmen tun.» Sarah Genner empfiehlt, jetzt nicht in Panik zu geraten. «Der Blick in die Geschichte hilft uns, den Ball flach zu halten.»
Für FHS-Rektor Sebastian Wörwag gibt es noch zwei weitere Eigenschaften, die den Menschen von der Maschine unterscheidet. «Die Fähigkeit, mit dem Scheitern umzugehen, und das kritische Hinterfragen. Beides müssen wir uns unbedingt erhalten.»
Nicht ständig online sein zu müssen, scheint auch der Generation Y wichtig zu sein. Julian Leopold, Bachelor-Student an der Universität St.Gallen, hat vor einem halben Jahr alle seine Social-Media-Accounts deaktiviert. «Ich habe gemerkt, dass sie zu viel Zeit fressen», sagt der 24-Jährige. Ein Suchtgefühl habe er zwar nie verspürt, aber bei Langeweile einfach aus Gewohnheit zum Smartphone gegriffen. Romina Züst ist vor allem auf Instagram und Snapchat aktiv. Ihr Umgang mit Social Media ist ziemlich entspannt. «Mit einer gewissen Selbstbeherrschung ist es gut möglich, nicht zu viel Zeit im Internet zu verbringen», sagt die 20-jährige Architektur-Studentin an der FHS.
«Ich habe erst seit zwei Wochen einen Instagram-Account», sagt Aleksandar Djordjevic, Bachelor-Student an der PHSG, «und das auch nur, weil ich jetzt in einer Musikband spiele.» Es sei eben schon cool, wenn man etwas mit der Welt teilen könne und dann auch ein Feedback bekomme, so der 28-Jährige. Dass er dabei Spuren im Internet hinterlasse, sei ihm bewusst. Julian Leopold hat sich mit seiner digitalen Vergangenheit erstmals auseinandergesetzt, als er seine Accounts ausschaltete. «Da habe ich gemerkt, wie schwierig und aufwendig es ist, die digitale Identität zu löschen.»