Wo der Mensch arbeitet, entsteht Stress. Zu viel Stress aber wirkt kontraproduktiv und geht ins Geld. Reto Kälin von Gesundheitsförderung Schweiz kennt die Zusammenhänge und weiss, wie Unternehmen und Mitarbeitende unterstützt werden können.
Reto Kälin: Gemäss dem Job-Stress-Index von Gesundheitsförderung Schweiz (letzte Erhebung 2022) liegen rund 28 Prozent der Erwerbstätigen im kritischen Bereich. Diese Betroffenen berichten über deutlich mehr Belastungen als Ressourcen. Der Anteil jener, die sich emotional erschöpft fühlen, übersteigt mit 30,3 Prozent erstmals seit 2014 die 30-Prozent-Marke. Der arbeitsbezogene Stress kostet die Wirtschaft rund 6,5 Milliarden Franken. Teilen wir diese Kosten durch 5,3 Millionen Erwerbstätige in der Schweiz, resultieren jährliche Kosten von rund 1200 Franken pro Erwerbstätige.
Die Zufriedenheit von Mitarbeitenden basiert auf drei Grundbedürfnissen: Autonomie, Kompetenzerleben und soziale Zugehörigkeit. Alle drei werden vom Wandel beeinflusst. Entscheidungsprozesse und Organisationsformen verändern sich, soziale Beziehungen finden infolge Homeoffice auf Distanz statt und digitale Kompetenzen müssen erworben werden. Aktuell kann es jedoch passieren, dass die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden vor lauter Change zu wenig beachtet wird. Damit sich Mitarbeitende bei der Arbeit weiterhin wohlfühlen und gesund bleiben, sind das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) und im Speziellen die Führungskräfte gefordert, sie mit neuen Lösungen zu unterstützen – beispielsweise mit Strategien zum Abschalten oder wertschätzender Kommunikation auf Distanz. Zufriedene und gesunde Mitarbeitende können besser mit Veränderungen umgehen. Sie sind motivierter und kreativer.
Wir bieten Informationen und Hilfsmittel bei der Umsetzung von Massnahmen in ihrem BGM. Diese reichen von ganz einfachen und niederschwelligen Angeboten bis hin zu einem systematischen BGM und dem Label «Friendly Work Space». Unsere meist kostenlosen Dienstleistungen richten sich an Führungspersonen, HR-Verantwortliche und Interessierte. Seit letztem Jahr bieten wir zwei brandneue Tools an: das Leadership-Kit für Führungskräfte, die ihre Mitarbeitenden stärken wollen, und die HR-Toolbox zur Unterstützung von HR-Fachpersonen in ihrem Alltag.
Die Jugendzeit ist eine sehr wichtige Entwicklungsphase, in der Denk- und Verhaltensmuster im Gehirn stark verändert werden. Zudem verfügen 16- bis 25-Jährige im Vergleich zur Gesamtbevölkerung über ein geringeres Mass an Selbstwirksamkeit. Das heisst, sie sind weniger in der Lage, gewünschte Handlungen mit ihren zur Verfügung stehenden Kompetenzen erfolgreich zu bewältigen. Ausserdem glauben sie weniger daran, dass sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Gerade diese Ressourcen sind aber wichtig für die psychische Gesundheit im Allgemeinen sowie für die Motivation, sich zu bewegen und sich ausgewogen zu ernähren. Auch unsere Stresserhebung zeigt: Diese Altersgruppe ist die am meisten gestresste. Über 40 Prozent haben Stress bei der Arbeit, über 30 Prozent fühlen sich emotional erschöpft. Auch Zahlen der Suva zeigen, dass Lernende ein doppelt so hohes Berufsunfallrisiko haben als die übrigen Angestellten.
Ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Lernenden bietet Ausbildnern wie Eltern einen optimalen Zugang. Noch fast wichtiger scheint mir hier aber, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den spezifischen Bedürfnissen der jungen Arbeitnehmenden Rechnung tragen, zum Beispiel die Reduktion des Leistungsdrucks. Und treten Verhaltensänderungen auf, gilt grundsätzlich: Früh reagieren! Das Gespräch suchen, hierbei unerwünschtes Verhalten und die Veränderung wohlwollend thematisieren. Das Interesse für die Lernenden und Mitarbeitenden im Allgemeinen und deren Wohlergehen stehen im Vordergrund; Schuldzuweisungen müssen unbedingt vermieden werden. Ganz zentral ist dann, konkrete Unterstützung und Hilfestellungen anzubieten. Dabei sollten unbedingt verbindliche Abmachungen getroffen werden. Nicht oder zu spät reagieren ist in jedem Fall falsch. Für Berufsbildungsverantwortliche hat Gesundheitsförderung Schweiz mit Apprentice übrigens ein eigenes Angebot geschaffen.
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von Kantonen und Versicherern getragen wird. Mit gesetzlichem Auftrag initiiert, koordiniert und evaluiert sie Massnahmen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten. Schwerpunkte bilden unter anderem die Gesundheit von Lernenden sowie gesundes Homeoffice. Gesundheitsförderung Schweiz ist zudem Partnerin beim Nationalen Bildungspreis, der von der Stiftung FH SCHWEIZ und der Hans Huber Stiftung verliehen wird. Im Rahmen der Verleihung des Preises im November im Tessin wird die Stiftung mit einem Referenten vor Ort präsent sein.