KI-Philosophie-Serie: Unfreie Roboter – unfreie Menschen

Flavio Kluser
Student Artificial Intelligence & Machine Learning HSLU
  • 01.09.2022
  • 7 min
KI, Kunst und Kritik: Studierende schreiben Essays über philosophisch-ethische Fragen rund um die Künstliche Intelligenz (KI). Zum Beispiel darüber, wer wen beherrscht: Der Mensch die Maschine oder umgekehrt? Und was das mit Kunst zu tun hat. Lesen Sie hier die dritte Folge unserer 8-teiligen KI-Philosophie-Serie.

«Can’t help myself» ist ein Kunstprojekt des chinesischen Künstlerduos Sun Yuan und Peng Yu. Seine Installation besteht aus einem Industrieroboter in einem leeren Raum, ausgestellt in einer Glasbox. Die einzige Aufgabe des Roboters ist es, eine blutähnliche Flüssigkeit in die Mitte zu wischen. Die Flüssigkeit breitet sich ständig neu aus. Der Roboter versucht, sie in seinem Umkreis zu halten. Er ist also ohne Unterbruch im Einsatz – in einer aussichtslosen Sisyphusarbeit.

Als wäre das allein nicht schon bizarr genug, unterbricht er seine Arbeit immer wieder, um einen von 32 programmierten Tänzen aufzuführen.

Noch ist der Mensch der Maschine ĂĽberlegen: Die Box, in der der Roboter arbeitet und von Menschen beobachtet wird, erinnert an ein Tiergehege im Zoo.

Die Interpretationsansätze sind vielfältig: In Social-Media-Kanälen zeigt sich aber deutlich, dass die meisten Kommentierenden Empathie zur Maschine zeigen. Viele gehen noch einen Schritt weiter: Sie interpretieren ihre eigenen oder gesellschaftliche Probleme in die Darstellung.

Es ist bemerkenswert, dass wir Gefühle für einen Roboterarm entwickeln, der alles andere als menschlich ist.

Ich finde es bemerkenswert, dass wir Gefühle für einen Roboterarm entwickeln, der alles andere als menschlich ist. Es ist auch nicht so, dass er sich um Vermenschlichung bemühen würde. Er sieht aus wie eine Maschine und funktioniert auch genauso. Ohne Spuren von Künstlicher Intelligenz. Stattdessen arbeitet er stur seinen Programmcode ab. Als ob er in einer Fabrik tätig wäre, wofür er ursprünglich vorgesehen war.

Die Präsentation des Roboterarms in der gläsernen Box erinnert an ein Tiergehege im Zoo. Die Zuschauerinnen und Zuschauer hinter den Scheiben sind aus meiner Sicht Bestandteil der Kunst. Niemand würde gerne in dieser Box sitzen, diese sinnlose Arbeit erledigen und dabei beobachtet werden. Es ist ein klares Überlegenheitsverhältnis zwischen Mensch und Roboter gegeben: Der Mensch steht über der Maschine.

Dieses Überlegenheitsverhältnis könnte kippen, sobald das Kunstwerk die Schranken des Digitalen überschreitet. Der Roboter von «Can’t help myself» verwendet an sich keine Künstliche Intelligenz. Indirekt kommt die KI dem Kunstwerk aber doch zu Hilfe: Denn es waren die Algorithmen der Social-Media-Plattformen Instagram und TikTok, die ihm schliesslich zu grosser Reichweite verhalfen. Ohne diese hätte «Can’t help myself» weltweit nicht so starke Resonanz ausgelöst. Auf TikTok wurde der Hashtag #canthelpmyself bislang in dreistelliger Millionenhöhe aufgerufen. Darum ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen diesem Kunstwerk digital begegnet sind – auf Social Media.

Emotional berührt von einem Industrieroboter: User und Userinnen auf TikTok reagierten auf «Can’t help myself» über drei Millionen Mal mit dem Hashtag #canthelpmyself.
Emotional berührt von einem Industrieroboter: User und Userinnen auf TikTok reagierten auf «Can’t help myself» über drei Millionen Mal mit dem Hashtag #canthelpmyself.

Die Algorithmen von Plattformen wie Instagram und TikTok zielen darauf ab, die Nutzenden so lange wie möglich am Bildschirm zu halten. Spätestens seit dem Leak des internen Dokuments «TikTok Algo 101» hat sich diese Vermutung bewahrheitet: TikTok treibt seine Userinnen und User gezielt in eine Sucht, anstatt ihnen die für sie tatsächlich relevanten Inhalte einzublenden.

Suchtfaktor TikTok: Auch die Nutzung von Social-Media-Plattformen kann zu einer «Sisyphusarbeit» werden (Bildquelle: Unsplash).
Suchtfaktor TikTok: Auch die Nutzung von Social-Media-Plattformen kann zu einer «Sisyphusarbeit» werden (Bildquelle: Unsplash).

Zum einen sind die Social-Media-Plattformen dem Kunstobjekt also dienlich, weil Userinnen und User es liken und sharen. Damit verbreiten sie die Botschaft von «Can’t help myself» in ihren Communities. Zum anderen riskieren sie als Nutzende der Plattformen eben genau der Botschaft des Kunstwerks zu entsprechen: So wie der Roboterarm in einer Endlosschleife gefangen ist, laufen sie selbst Gefahr, durch den Suchtfaktor der Plattformen gebannt zu werden. Wer ist da wem überlegen?

Es stellt sich die Frage: Wieviel mehr freien Willen haben eigentlich die Millionen von Social-Media-Nutzenden als der Roboter «Can’t help myself»?

Frage in die Runde: Sind auch Sie von «Can’t help myself» berührt? Sind Social-Media-Nutzende unfrei? Bitte schreiben Sie Ihren Kommentar hier zuunterst in die Kommentarspalte.

Veröffentlicht am 1. September 2022

Lässt sich nicht mehr länger von Algorithmen seine Zeit stehlen: Flavio Kluser ist Student des Studiengangs Artificial Intelligence & Machine Learning. Er stiess auf das Kunstwerk «Can’t help myself», als er sich gerade mal wieder ziellos von seinem Instagram-Feed berieseln liess. Dabei realisierte er, wie widersinnig Stimulierung durch Social-Media-Kanäle ist und wieviel Einfluss deren Algorithmen über ihn haben. Er beobachtete, dass sein Interesse an Social Media dann ins Gegenteil kippt, wenn er als User den Plattformen nur noch als Batterie dient, die für etwas Gehirnstimulation Werbeeinnahmen für die Plattformen generiert und deren Algorithmen weiter trainiert.

KI-Philosophie-Serie: Der obenstehende Beitrag wurde ihm Rahmen des Bachelor-Studiengangs Artificial Intelligence & Machine Learning geschrieben. Er ist Teil einer 8-teiligen Blog-Serie mit bestbenoteten Essays von Studierenden.

Der betreffende Studiengang nimmt die Implikation der Technik ernst. Daher lernen die Studierenden nicht nur, KI einzusetzen, sondern diese auch nachhaltig, sicher und ethisch verantwortbar umzusetzen. Als Basis dafür dient unter anderem ein Philosophie-Modul unter der Leitung von Peter A. Schmid und Orlando Budelacci. Die Hochschule Luzern setzt dabei auf Interdisziplinarität: Dieses Modul zeigt beispielhaft, wie sich drei Departemente – Informatik, Soziale Arbeit und Design & Kunst – fachübergreifend einem Zukunftsthema zuwenden.

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