In der Schweiz sind die Blaulichtorganisationen von Kanton zu Kanton unterschiedlich organisiert und so zeigen sich auch Unterschiede beim Vorgehen bei der Rekrutierung und Auswahl des zukünftigen Personals. Einige Arbeitgeber setzen dabei auf stark selektive Assessments, andere verlassen sich mehr auf die Erfahrung und das Bauchgefühl der Personalverantwortlichen. Bewusst ist jedoch allen, dass die Ausübung von Blaulicht-Berufen besondere Anforderungen an die Persönlichkeit stellt. Hardegger und Boss (2018) vom IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften identifizierten fünf spezifische Anforderungsdimensionen, welche sie in ihrem Safe Five Modell beschreiben: Situation Awareness, Regelkonformität, Kritische Grundhaltung, Expositionsbereitschaft und Notfalltauglichkeit. In der hier referierten Studie ging es darum letztere Dimension genauer zu definieren. Im Modell wird sie folgendermassen umschrieben:
Notfalltauglichkeit bezeichnet das zielorientierte Handeln ausserhalb des gewohnten Kontextes. Es geht also darum, in sehr anforderungsreichen oder Unsicherheit erzeugenden Situationen mit grossem Zeit- und/oder Handlungsdruck zu entscheiden und zu handeln und dabei innert nützlicher Frist auf einen sicheren und stabilen Systemzustand hinzuwirken. (Hardegger & Boss, 2018, S. 92)
Stress beeinflusst unsere kognitiven Prozesse und hat so einen grossen Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die subjektiv-psychologische Intensität der aversiven Reize (Birbaumer & Schmidt, 2010). So haben zum Beispiel Zeitdruck und Eile zur Folge, dass man eine Situation nicht mehr richtig und umfassend einschätzen kann und deshalb wichtige Merkmale einer Notsituation übersieht, was zu Fehlentscheiden und Fehlhandlungen führen kann (Darley & Batson, 1973).
Betrachtet man Notfalltauglichkeit über das Handeln in kritischen Situationen hinausgehend, spielt auch der langfristige Umgang mit Belastungen, die Resilienz, eine wichtige Rolle. Studien zeigen auf, dass sich diese insbesondere aus der erfolgreichen Bewältigung risikoreicher Situationen entwickelt (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2015). Ein Beleg dafür liefert auch eine kürzlich durchgeführte Untersuchung an Schweizer Rettungsdienstpersonal, welche aufzeigt, dass Rettungssanitäter*innen eine höhere Ausprägung in Resilienz haben als die Normalbevölkerung (Cajoos & von Tavel, 2019). Einen wichtigen Einfluss darauf, wie Mitarbeitende von Blaulichtorganisationen mit kritischen Ereignissen umgehen, haben nicht zuletzt auch Persönlichkeitseigenschaften (Klee & Renner, 2013).
Mit je zwei Vertretenden aus Rettungsdienst, Polizei, Berufsfeuerwehr und Notarztdienst führte der Erstautor ein episodisches Interview. Aus den Einzelfallanalysen ergaben sich 11 Kategorien aus denen sich die Notfalltauglichkeit zusammensetzt. Mittels des systematischen Paarvergleiches wurde anschliessend die Rangreihenfolge der Wichtigkeit dieser elf Faktoren bestimmt. Dazu bearbeiteten 350 Mitarbeitende von Blaulichtorganisationen (Polizei n = 163, Rettungsdienst n = 134, Feuerwehr und Notarztdienst n = 53) einen Online-Fragebogen, in welchem sie jeweils entscheiden mussten, welche von zwei Verhaltensweisen oder Eigenschaften für sie subjektiv eher dem Konzept Notfalltauglichkeit entspricht. Durchschnittlich verfügten die Studienteilnehmenden – 102 davon waren weiblich – über mehr als 13 Jahre Berufserfahrung und waren zum Zeitpunkt der Befragung knapp 40 Jahre alt.
Die Häufigkeitsauszählung der Wichtigkeitsurteile zeigte, dass die Entscheidungsfähigkeit mit 13.3% auf dem ersten Platz liegt. Gefolgt von der schnellen Auffassungsgabe mit 11% und dem Pragmatismus mit 10.5% der Urteile. Diese drei Kompetenzen scheinen im Notfall eine tragende Rolle zu spielen. Das Schlusslicht bildeten die Kompetenzen Lernfähigkeit mit 5.5% und die Distanzierungsfähigkeit mit 5% der Stimmen. Eine konkrete Massnahme, welche basierend auf den Studienergebnissen umgesetzt werden könnte, ist ein Entscheidungs-Training. Ziel davon ist, dass angehende Mitarbeitende darauf trainiert werden, schnelle Entscheidungen zu fällen, damit die Situation nicht stehen bleibt und alle Beteiligte in eine Handlung kommen. Zudem scheint es ebenso wichtig zu sein, dass man in der Notfallsituation eine pragmatische, stimmige Lösung findet. Dies kann auch bedeuten, dass man von gelernten Abläufen und Handlungen abweichen muss, um unter den gegebenen Umwelt- und Zeitaspekten das Bestmögliche zu leisten.
In der Auswertung zeigten sich bei den Berufsgruppen der Rettungssanitäter*innen und Polizisten und Polizistinnen kleine signifikante Unterschiede in der Gewichtung einzelner Kompetenzen. So findet man bei der Polizei die Handlungsfähigkeit auf dem dritten Rang, im Rettungsdienst auf dem sechsten. Ein Grund dafür kann sein, dass Polizist*innen oft als erste auf einem Schadensplatz eintreffen und von ihnen sofortiges Handeln verlangt wird. Weiter wurde bspw. die Team- und Kommunikationsfähigkeit beim Rettungsdienst signifikant höher eingestuft als bei den Kolleginnen und Kollegen der Polizei. Auch hier können verschiedenste Gründe die Ursache sein: So werden beispielsweise bei grösseren Ereignissen Personen aus dem Rettungsdienst schneller von anderen Partnerorganisationen unterstützt oder es kommt Unterstützung von notärztlicher Seite, sodass sofort eine Anpassung der Teamkonstellation und Kommunikation vorgenommen werden muss. Weiter sprechen Rettungssanitäter*innen während eines Einsatzes mit verschiedensten Gruppen wie Patienten, Angehörige oder später bei der Übergabe im Spital mit Fachpersonen. Dabei müssen sie ihren Sprachgebrauch immer der Situation anpassen.
Die Ergebnisse dieser Arbeit liefern einen ersten Anhaltspunkt , welche Kompetenzen im Einsatz eine tragende Rolle spielen. Sie decken sich teilweise auch mit denen von Ripley (1994) aufgeführten Eigenschaften erfolgreicher Feuerwehrleute, wie zum Beispiel Flexibilität, praktische Veranlagung oder Entscheidungsfreudigkeit. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse lassen sich bei der Selektion oder im Training einsatzbezogene, berufsgattungsspezifische Schwerpunkte setzen. Die einseitige Ausrichtung der Studie auf das Verhalten im Notfall führte dazu, dass gewissen Kompetenzen wie der Lern- oder der Distanzierungsfähigkeit eine geringere Bedeutung zugeschrieben wurde. Das heisst jedoch nicht, dass diese grundsätzlich für eine erfolgreiche Berufsausübung unwichtig wären. So kommt die Lernfähigkeit hauptsächlich während der Ausbildung und den Trainings zum Tragen und die Distanzierungsfähigkeit hilft dabei, belastende Erlebnisse besser verarbeiten zu können.
Birbaumer, N.-P. & Schmidt, R. F. (2010). Biologische Psychologie (Springer-Lehrbuch) (7., überarb. und erg. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Cajoos, V. & von Tavel, I. (2019). Wie widerstandsfähig sind die Profis wirklich? punktum, (1), 25–26.
Darley, J. M. & Batson, C. D. (1973). „From Jerusalem to Jericho“: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 27 (1), 100–108. doi:10.1037/h0034449
Fröhlich-Gildhoff, K. & Rönnau-Böse, M. (2015). Resilienz (UTB) (4., aktualisierte Auflage., Band 3290). München: Ernst Reinhardt Verlag. Zugriff am 14.11.2018. Verfügbar unter: http://sfx.ethz.ch/sfx_locater?sid=ALEPH:EBI01&genre=book&isbn=9783825245191
Hardegger, S. C. & Boss, D. P. (2018). Kompetenzen in der Welt der Sicherheit. KMU-Magazin, 90–93.
Klee, S. & Renner, K.-H. (2013). In search of the “Rescue Personality”. A questionnaire study with emergency medical services personnel. Personality and Individual Differences, 54 (5), 669–672. doi:10.1016/j.paid.2012.11.006