Soziale Arbeit und Politik stehen in einem engen WechselverhĂ€ltnis. Bereits die Pionier*innen unserer Profession vertraten die Ansicht, dass viele soziale Problemlagen nicht individuell, sondern zu grossen Teilen strukturell verursacht sind und mischten sich in politische Aushandlungsprozesse ein. Auch heute engagieren sich Berufskolleg*innen auf verschiedenen Ebenen berufs-, bildungs- oder sozialpolitisch: Sie ĂŒben politische Ămter aus, nehmen in Arbeitsgruppen des Berufsverbandes Stellung zu gesellschaftlichen Entwicklungen oder verweigern in ihrer Praxis mit Verweis auf den Berufskodex (AvenirSocial: 2010) ungerechte AuftrĂ€ge.Â
Soziale Arbeit macht Politik. Aber soll sie das auch? FĂ€llt politische AktivitĂ€t in das Aufgabenspektrum von Fachpersonen der Sozialen Arbeit? Die Konsultation des Fachdiskurses ermöglicht eine klare Antwort: Silvia Staub-Bernasconi (2007) weist darauf hin, «dass die Formulierungen in den Berufskodizes eigentlich ausreichen wĂŒrden, um auf fachlich-wissenschaftlicher Basis (leidenschaftlich) politisch zu denken und zu handeln» (242f) und GĂŒnter Rieger (vgl. 2013: 58) versteht das «Politikmachen» als eine Interventionsform der Sozialen Arbeit. Gleichzeitig wird in neueren Publikationen eine zunehmende Entpolitisierung von Sozialarbeitenden konstatiert (vgl. z.B. Gysi 2018). Mechthild Seithe (2014) spitzt diese EinschĂ€tzung zu, indem sie unterstellt, dass «in der gegenwĂ€rtigen Sozialen Arbeit an der Basis [âŠ] eher politische Apathie angesagt [ist] als politisches Bewusstsein und Engagement» (109).Â
Empirische Belege fĂŒr solche Behauptungen existieren nicht, zumal bislang im deutschsprachigen Raum die politische AktivitĂ€t von Sozialarbeitenden kaum zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht wurde. Einen Beitrag zur Schliessung dieser bedeutenden ForschungslĂŒcke beabsichtigt meine Masterthesis zu leisten. Zu diesem Zweck habe ich von Mai bis Juli 2018 eine Onlinebefragung durchgefĂŒhrt. Insgesamt haben 1815 Fachpersonen der Sozialen Arbeit aus allen Kantonen der Schweiz daran teilgenommen und Angaben zu ihrer politischen Einstellung, ihrer politischen AktivitĂ€t und ihrem VerstĂ€ndnis einer politisch agierenden Sozialen Arbeit gemacht.
Die 1815 befragten Fachpersonen der Sozialen Arbeit sind durchschnittlich 37 Jahre alt und verfĂŒgen zum Erhebungszeitpunkt ĂŒber eine Berufserfahrung von elf Jahren. Knapp zwei Drittel ordnen sich dem weiblichen, ein Drittel dem mĂ€nnlichen und ein Prozent einem anderen Geschlecht zu. 68 Prozent der Teilnehmenden besitzen einen tertiĂ€ren Abschluss in Sozialer Arbeit, ein Viertel studiert zum Zeitpunkt der Befragung Soziale Arbeit und die restlichen sieben Prozent arbeiten mit einem anderen Abschluss im Feld der Sozialen Arbeit. Mit einem Anteil von 27 Prozent ist der gesetzliche Bereich der Sozialhilfe sowie des Kindes- und Erwachsenenschutzes das in der Stichprobe am stĂ€rksten vertretene Berufsfeld.
Befragt nach ihrer politischen Einstellung ordneten sich auf einer Links-Rechts-Skala von null (links) bis zehn (rechts) 86 Prozent der Teilnehmenden zwischen null und vier ein. Von den restlichen 14 Prozent positionieren sich 6 Prozent rechts, zwischen sechs und zehn. Die befragten Sozialarbeitenden zeigen im Vergleich mit der schweizerischen Gesamtbevölkerung ein ĂŒberdurchschnittliches Politikinteresse. WĂ€hrend in der achten Runde des European Social Survey 75 Prozent der tertiĂ€r Ausgebildeten Interesse an Politik zeigten (vgl. Ernst StĂ€hli et al. 2016), sind in der vorliegenden Stichprobe 85 Prozent sehr oder ziemlich politisch interessiert. Dieser hohe Wert lĂ€sst sich unter anderem mit der SelektivitĂ€t der Stichprobe erklĂ€ren: Anzunehmen ist, dass politisch uninteressierte Personen tendenziell weniger motiviert sind, sich an einer Befragung zur politischen AktivitĂ€t zu beteiligen. Neben dem allgemeinen politischen Interesse ergab die Abfrage des Interessensfokus ein spannendes Resultat: 90 Prozent der Befragten interessieren sich fĂŒr das nationale, 80 Prozent fĂŒr das kantonale und nur 61 Prozent fĂŒr das kommunale politische Geschehen. Dieses Ergebnis ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass gerade auf kommunaler Ebene ein Grossteil der fĂŒr die Praxis der Sozialen Arbeit relevanten sozialpolitischen Regelungen verhandelt werden.
Im Rahmen der Untersuchung werden unter âpolitischer AktivitĂ€tâ in Anlehnung an die Definition von Kaase (vgl. 1996: 521) alle AktivitĂ€ten verstanden, «die Personen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen» (Kindler 2019: 44). Um diese abstrakte Definition fĂŒr die Befragung zu operationalisieren, wurden im Fragebogen 37 konkrete politische AktivitĂ€ten aufgelistet, wie beispielsweise âWĂ€hlenâ oder âAdressat*innen zu politischer AktivitĂ€t motivierenâ. Die Teilnehmenden wurden gebeten, fĂŒr jede davon anzugeben, wie oft sie diese TĂ€tigkeit in den letzten zwölf Monaten ausgeĂŒbt haben. 388 Befragte (21%) können als nie, 1069 (59%) als selten, 286 (16%) als manchmal, 71 (4%) als oft und eine befragte Person als sehr oft politisch aktiv bezeichnet werden. Diese Werte können im Vergleich mit der schweizerischen Gesamtbevölkerung als durchschnittlich eingeordnet werden (vgl. Ernst StĂ€hli et al. 2016). Sechzehn Prozent der Befragten haben schon einmal fĂŒr ein politisches Amt kandidiert und elf Prozent haben oder hatten in der Folge auch ein solches inne. Es fĂ€llt auf, dass gewisse AktivitĂ€ten öfter ausgeĂŒbt werden als andere. Besonders oft wird gewĂ€hlt, abgestimmt oder im Freundeskreis ĂŒber politische Themen diskutiert. Seltener werden öffentliche Reden, Streiks oder ehrenamtliche politische Arbeiten als Form des politischen Engagements angegeben. Der Schluss liegt nahe, dass die Teilnehmenden eher politische AktivitĂ€ten prĂ€ferieren, die wenig Ressourcen â in Form von Zeit, Geld und öffentlicher Exposition â erfordern.
Bisher wurde aufgezeigt, dass die befragten Fachpersonen der Sozialen Arbeit politisch deutlich linksorientiert eingestellt, ĂŒberdurchschnittlich politisch interessiert und durchschnittlich politisch aktiv sind. In einem weiteren Schritt soll nun die Frage interessieren, ob Sozialarbeitende politisches Engagement als Bestandteil ihres professionellen Auftrages verstehen, wie dies in den eingangs erwĂ€hnten Publikationen gefordert wird. Auf die Aussage âSoziale Arbeit hat einen politischen Auftragâ reagierten 1693 von 1815 (94%) Teilnehmenden mit Zustimmung. Ăhnlich hohe Zustimmungswerte erreichen die Aussagen, dass Soziale Arbeit sozialpolitische Interventionen initiieren mĂŒsse (92%) oder dass es fĂŒr Sozialarbeitende und ihre professionelle Arbeit wichtig sei, Politik zu verstehen (95%). Soziale Arbeit hat also in den Augen der Befragten einen politischen Auftrag. Gleichzeitig reagierte die HĂ€lfte der Teilnehmenden auf die Aussage âSozialarbeitende sollten wĂ€hrend ihrer Arbeitszeit politisch aktiv seinâ mit Ablehnung. ZusĂ€tzlich sprechen sich 41 Prozent dafĂŒr aus, dass Sozialarbeitende auch wĂ€hrend ihrer Freizeit nicht politisch aktiv sein sollten. Damit stellt sich die Frage: Wie, wann und von wem soll der politische Auftrag ausgefĂŒhrt werden?
Wie einleitend erwĂ€hnt, wird in der Sozialen Arbeit viel ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Profession und Politik geredet und geschrieben. Dabei bleiben diese Diskussionen meist abstrakt, beziehen sich selten auf die praktische Umsetzung und tragen daher kaum zur Entwicklung einer gemeinsamen Positionierung bei. Der vorliegende Beitrag möchte einerseits eine konstruktive und vermehrt auch empirisch gestĂŒtzte Diskussion hierzu anregen und andererseits fĂŒr eine Professionalisierung des Politisierens plĂ€dieren. Denn wenn «Politikmachen» mit Rieger (2013: 58) als eine Interventionsform der Sozialen Arbeit verstanden wird, dann muss sich eine um Professionalisierung bemĂŒhte Soziale Arbeit auch um eine Professionalisierung ihrer politischen AktivitĂ€t, ihres politischen Auftretens, ihres politischen Wissens, ihrer politischen Kompetenz und ihrer politischen Vernetzung kĂŒmmern. HierfĂŒr muss geklĂ€rt werden, wer sich auf welchen Ebenen, mit welchen Methoden, mit welchen Zielen und in wessen Namen politisch einsetzt und wer die politische Arbeit (zumindest teilweise) anderen ĂŒberlĂ€sst. Die Professionalisierung des «Politikmachens» setzt explizit nicht voraus, dass alle Fachpersonen der Sozialen Arbeit ĂŒberdurchschnittlich politisch aktiv sind. Eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Fragestellungen dĂŒrfte jedoch von Ausbildungseinrichtungen und VerbĂ€nden sowie von allen Sozialarbeitenden, denen eine professionelle und wirkungsvolle Soziale Arbeit am Herzen liegt, verlangt werden. Idealerweise entsteht so eine gemeinsame oder zumindest teilweise geeinte Positionierung innerhalb der Profession, mit der Vertreter*innen der Sozialen Arbeit nach aussen treten können.