Autor: Guy Studer
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Carole Jungo (32) hat sich bereits im Kindergarten anders verhalten als ihre Altersgenossen. Ihre Diagnose erhielt sie erst viel später, nach einer langen Leidenszeit. Im Interview erklärt sie, wie sie das Leben als Person im Autismus-Spektrum erlebt. Gerade auch im Studium wäre ein aufgeklärter und verständnisvoller Umgang entscheidend, damit sich Menschen mit Autismus besser entfalten können. Mitunter deshalb hat sich Carole entschieden, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie möchte andere Menschen im Autis mus-Spektrum ermutigen und gleichzeitig für ihre Anliegen und Bedürfnisse sensibilisieren. Mit dabei beim Gespräch mit INLINE war auch Thomas Mario Vogt (34), kurz Tom. Beide sind Mitglieder im Vorstand des Vereins Aspies Deutschschweiz (siehe Box am Artikelende). Weil das Autismus-Spektrum viele Ausprägungen kennt, hat zudem die Präsidentin des Vereins Aspies Deutschschweiz, Eva Stucki, die Fragen schriftlich ergänzt.
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Carole: Ja, im Kindergarten schlief ich oft einfach auf der Matte am Boden. Die Kindergartenlehrperson suchte deshalb das Gespräch mit meinen Eltern.
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Carole: Während der Schulzeit wurde ich abgeklärt mit der Diagnose ADHS, obwohl ich selber nicht davon überzeugt war. Trotzdem wurde ich entsprechend therapiert, mit mässigem Erfolg. Doch immerhin konnte ich dadurch meine Leistungen in der Schule verbessern.
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Carole: Ich kam selber darauf. Nach der Lehre entschloss ich mich, die Berufsmatura zu absolvieren. Dort musste ich ein Buch auf Englisch lesen. Ich fragte meine Schwester nach einem Tipp. Sie empfahl mir das Buch «The Curious Incident of the Dog in the Night-Time». Es handelt von einem autistischen Jungen. Als ich es las, kam bei mir der Verdacht, dass ich ebenfalls in das Spektrum gehören könnte. Trotz des Widerstands meiner Therapeutin, die meine Meinung nicht teilte, entschloss ich mich, eine Abklärung zu machen. Für mich war der Fall klar, auch wenn ich in Schnelltests eher auf der Kippe bin. Die Abklärung bestätigte meinen Verdacht.
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Carole: Das war 2015, ich war 23. Ich hatte die Lehre sowie eine erste mĂĽhselige Phase der Jobsuche hinter mir. Zuletzt war ich noch auf Reisen gewesen, ich stand somit bereits voll im Leben.
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Carole: Ich habe zwei ältere Geschwister. Beide sind sehr extrovertiert und finden rasch Kontakte. Sie kannten in der Jugendzeit das halbe Dorf, während ich nur schon Mühe hatte, eine bis zwei gute Freundinnen zu finden. Auch im Klassenverband war es für mich schwierig. Andere verstanden Dinge im sozialen Umgang auf Anhieb, ich kam einfach nicht draus. Es war für mich, als hätten wir alle ein Gerät, mir aber fehlte die Bedienungsanleitung.
Tom: Bei Sozialinteraktionen ist es bis heute für mich ein «Trial and Error», also immer wieder versuchen und schauen, ob ich es richtig mache. Und doch blieb die Fehlerquote lange Zeit hoch. Diese Schwierigkeit, sich sozial integrieren zu können, nagt auch am Selbstwert. Entweder man eckt weiter an oder setzt, um akzeptiert zu werden, eine unsichtbare Maske auf (auch als «Masking» bekannt, Anm. d. Red.), mit der man seine eigene Persönlichkeit unter hohem Energieaufwand für das Wohlbefinden seiner Mitmenschen während der gemeinsamen Interaktion unterordnet oder schlicht verbirgt.
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Carole: Die Diagnose war vor allem für mich selber eine Bestätigung. Meine Familie wusste es auch. Sonst ging ich vorsichtig damit um und habe es nur Menschen anvertraut, die auch wussten, dass ich in der Abklärung gewesen war. Seit einigen Jahren nun gehe ich offen damit um, versuche aber eine Balance zu finden.
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Carole: Allgemein ist es für uns durch das Masking extrem anstrengend, uns im sozialen Umfeld zu bewegen. Es kommt vor, dass wir nach längerer Zeit im sozialen Gefüge tagelang nur auf dem Sofa liegen, weil wir so ausgebrannt sind.
Tom: Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass ich es nicht aus dem Bett geschafft habe, weil ich derart erschöpft war. In einem solchen Fall ist der psychische Overload einfach so gross, dass der Körper nicht mehr mitmacht und in eine Art Shutdown schaltet.
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Carole: Es ist ein Unterschied, ob jemand schon mit neurodiversen Menschen zu tun hatte, oder nicht. Viele Vorstellungen kommen wohl auch von Bildern aus Filmen, in denen extreme Ausprägungen des Autismus dargestellt werden – wobei es in dieser Hinsicht auch sehr gute Filme gibt. Den meisten Leuten ist nicht bewusst, wie breit das Spektrum ist. Viele liegen irgendwo in der Mitte und die Ausprägung ist nicht so extrem. Das ist auch der Grund, weshalb wir mit unserem Verein ein Bewusstsein schaffen möchten.
Tom: Man erhält auch wohlwollende Kommentare. Jemand sagte mir schon: «Du siehst ja gar nicht autistisch aus!» Das ist natürlich gut gemeint. Was man nicht sieht, ist, wie fertig ich am Ende des Tages bin, weil die Anpassung in der sozialen Interaktion so viel Energie kostet.
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Carole und Tom: Ja, wir erleben das beide immer wieder. Gerade bei einem Thema von ausserordentlichem Interesse, etwa bei Recherchearbeiten oder Datenverarbeitung, die ein tiefergehendes Verständnis voraussetzen, kommt es oft zu einem Hyperfokus. In einem Umfeld, das uns sensorisch entspricht, ist es auch im geschäftlichen Kontext möglich, dass der Hyperfokus im positiven Sinne zum Tragen kommt und wir dadurch ausserordentliche Leistungen erbringen. Meist ist dieser aber eben nicht auf Knopfdruck abrufbar und kann auch unerwartet auftreten. Daher sehen wir ihn nicht unbedingt als nachhaltigen Vorteil, den Arbeitgeber oder Dozierende so einfach von uns erwarten könnten.
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Viele Vorstellungen kommen wohl auch von Bildern aus Filmen, in denen extreme Ausprägungen des Autismus dargestellt werden.
Carole: Bei der Ausarbeitung eines Nachteilsausgleichs hatte ich noch die glückliche Position, dass ein Coach mit mir den Prozess begleitete, mich unterstützte und vermittelte. Das hat mir sehr geholfen; der Coach konnte einiges auffangen und wirkte für mich wie ein Puffer. Die FH war bemüht, mir entgegenzukommen. Ich hatte einfach den Eindruck, dass einige Umstände als sehr kompliziert wahrgenommen wurden und zu Diskussionen führten.
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Carole: Der Anspruch auf ein separates Zimmer bei Prüfungen bedingt eine zusätzliche Aufsichtsperson, was natürlich Geld kostet. Man fühlt sich dann in der Defensive, weil man Aufwand beschert. Schwierig fand ich, wenn ich zwar auf Bemühen, aber nicht wirklich auf Verständnis stiess. Bei Menschen im Autismus-Spektrum sind Herausforderungen zwar oft ähnlich gelagert, aber eben doch individuell. Und das ist entscheidend.
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Tom: Ich musste meine Energie im Studienalltag sehr gut einteilen. Mir war daher wichtig, meine «Maske», die ich im sozialen Gefüge aufsetze, auch mal fünf bis zehn Minuten ablegen zu können. Dazu muss ich mich zwischenzeitlich in einen geschlossenen Raum zurückziehen können. An der FH hatte ich dazu nur das WC. Ich musste einfach hoffen, dass in dem Moment nicht jemand gerade in einer anliegenden Kabine länger verweilt. Jede Abweichung vom Plan, etwa eine verspätete Pause, hat mich zusätzlich zurückgeworfen. Während der Prüfungen waren es Reizfaktoren, Gerüche, Geräusche, visuelle Ablenkung um mich herum. Das Letzte, das ich während einer Prüfung brauchen konnte, waren unabsehbare Änderungen, Störungen oder Interaktionen.
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Carole: Meine Erfahrung war, dass teils auch Experten in diesem Bereich ein etwas festgefahrenes Bild von unseren Bedürfnissen haben können. Der separate Raum bei Prüfungen etwa kam mir kaum entgegen. Wichtig für mich waren hingegen die 30 Prozent mehr Zeit am Schluss, wenn die anderen fertig waren. Auch wurde teilweise nicht begriffen, dass ich durchaus auch an Gruppenarbeiten teilnehmen kann, wobei für mich die Zusammensetzung einer Gruppe entscheidend ist. Aufträge sollten zudem sehr klar und unmissverständlich formuliert sein. Wichtig wäre hier gewesen, dass ich nachfragen kann bei Unklarheiten, die vielleicht für andere klar sind. Vieles geht um individuelle Feineinstellung.
Tom: Der separate Raum war für mich sehr verwirrend, da ich keine Anhaltspunkte hatte, wo etwa die anderen Studierenden stehen. Die Lösung war einfach: Ich konnte im selben Raum wie alle anderen sitzen, einfach ganz vorne und mit Stöpsel in den Ohren. So konnte ich mich gut konzentrieren.
Carole: Während Corona war ich von der Maskenpflicht befreit. Obwohl ich dann trotzdem eine getragen habe, war es wichtig für mich, die Option zu haben, sie ausziehen zu können.
Den Hyperfokus sehen wir nicht als nachhaltigen Vorteil, den Arbeitgeber oder Dozierende so einfach von uns erwarten könnten.
Carole: Da muss ich den Dozierenden und der FH ein Kompliment machen. Grundsätzlich ging das sehr gut und sie haben sich – bis auf einzelne Fälle – als sehr hilfsbereit und tolerant erwiesen. Als ich aber während der Pandemie den Dialog suchte, zeigte sich die FH sehr kooperativ. Natürlich konnte mal etwas vergessen gehen, gerade wenn eine Prüfung online stattfand, aber das kommt halt vor.
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Carole: Der Studienklasse muss ich ein Kompliment machen, sie haben mir nicht das Gefühl gegeben, ein «Problem» zu sein. Es gab nur ganz vereinzelt schwierige Situationen. Ich habe einfach festgestellt, dass ich mehr Zeit brauche. Ich bin auch der Meinung, dass man nicht in Watte gepackt werden soll aufgrund der Diagnose. Man muss auch selber lernen, damit umzugehen. Toleranz ist gegenseitig gefragt.
Tom: Ich habe immer meine Rolle gespielt und denke, dass ich so sicher einiges gut abfangen konnte. Mobbing habe ich in der Schule und bei der Arbeit erlebt. Nicht aber im Studium.
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Carole: Dazu kann ich ein Beispiel geben: Während einer längeren Abklärung war ich einmal in einer Institution, wo ich vollkommen selbstverständlich verstanden und akzeptiert war. Es war ein anderes Lebensgefühl. Ich fühlte mich frei, da ich merkte, dass ich durchaus funktioniere und etwas beitragen kann. Abends hatte ich auch nicht das Gefühl, ausgebrannt zu sein. Das Umfeld macht sehr viel aus, wenn es statt einer Erwartungshaltung aufrichtiges Bemühen und Verständnis entgegenbringt.
Tom: Mir hilft es schon enorm, wenn Regeln eingehalten werden. Wichtige Punkte sind fĂĽr mich Auseinandersetzung, Respekt und Diskretion. Ein Dozent im Studium hat mich jeweils aufgerufen und Antworten von mir verlangt, auch wenn ich mich nicht gemeldet hatte. Ich fĂĽhlte mich blossgestellt, respektlos behandelt und dadurch sehr gestresst. Es zeugt von Respekt, wenn sich jemand bemĂĽht, einen zu verstehen und dies diskret handhabt.
Bei Sozialinteraktionen ist es bis heute für mich ein ‹Trial and Error›, also immer wieder versuchen und schauen, ob ich es richtig mache.
Tom: Es wäre uns ein Anliegen, wenn wir mit Gleichstellungsbeauftragten von Fachhochschulen oder auch mit Studienleitern und Dozierenden ein Gespräch oder einen runden Tisch organisieren könnten. Es geht dabei um Sensibilisierung und Verständnis.
Carole: Ich beobachte, dass Fachhochschulen und Dozierende grundsätzlich auch bemüht sind, sich diese Informationen zu holen.
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Hier heben die Interviewten drei Punkte hervor:
Vertrauen
Carole: Mir wäre es sehr wichtig, eine sichere und kompetente Anlaufstelle zu haben – etwa eine beauftragte Person für Gleichstellung. Eine Stelle mit Vermittlerfunktion, eine Instanz, die Erfahrungen sammelt und diese einbringen und bei Bedarf anpassen kann.
Eva: Grundsätzlich würde ich raten, sich nicht irgendwelche Massnahmenpläne aus den Fingern zu saugen, sondern sich mit Lernenden beziehungsweise Personen im Spektrum zusammenzusetzen und gemeinsam zu überlegen, welche Massnahmen für den jeweiligen Studiengang sinnstiftend sein könnten.
GlaubwĂĽrdigkeit
Carole: Wichtig ist, dass es keine Pflichtübung «pro forma» ist, sondern mit Professionalität gehandhabt wird und mit Einfühlungsvermögen. Betroffene fühlen sich nicht unbedingt wohl dabei, sich selber zu melden und das zu thematisieren. Wenn man aufrichtiges Interesse spürt, macht das einen entscheidenden Unterschied.
Eva: Sich auf die autistische Person einlassen, die vor einem steht. Sie ernst nehmen, wertschätzen und lösungsorientiert schauen, was es braucht, damit genau dieser Person keine Behinderung entsteht aus der schlechten Passung zwischen der Denke respektive den Strukturen der Mehrheit und ihrer Art, durch die Welt zu gehen.
Kontinuität
Carole: Idealerweise sind Personen in diesen Schnittstellen tätig, die Erfahrung haben und langfristig tätig sind. Häufige personelle Wechsel sind ungünstig, weil damit für uns Sicherheit und Vertrauen verloren gehen.
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Carole: Allgemein kann man festhalten, dass eine reizarme Umgebung uns grundsätzlich entgegenkommt. Theoretisch könnte das sehr weit gehen. Oft sind es aber nur kleine Dinge, die stören, wie ein WLANRepeater, der immer leuchtet, Geräusche vom Nebenraum oder ein Bild an der Wand, das triggert. Und Rückzugsmöglichkeiten sind für viele sehr wichtig. Von abgedunkelten Ruheräumen etwa können viele profitieren. Ich habe das selber an einem Ort erlebt, wo ich ein Praktikum absolvierte. Davon profitieren ja alle Menschen.
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Eva: Das absolut Entscheidende ist das Mindset des Gegenübers. Wenn mein Gegenüber Autismus als Störung betrachtet, sind alle anderen Massnahmen nur Tröpfchen auf den heissen Stein. Ein ideales Umfeld ist für mich ein Umfeld, welches (Neuro-)Diversität, inklusive Autismus und andere neurodivergente Minoritäten, als bereichernde akademische Norm betrachtet und so den Fokus auf den Mehrwert legt, der aus dieser Kooperation entstehen kann, wenn die Bedingungen für alle Beteiligten stimmen.
Es wäre uns ein Anliegen, wenn wir ein Gespräch oder einen runden Tisch organisieren könnten.»
Der gemeinnützige Verein Aspies Deutschschweiz wurde 2019 von zwei autistischen Menschen gegründet. Sie schufen damit erstmals einen organisierten Sammelpunkt für die gesamte deutschsprachige Schweiz, von dem aus autistische Menschen selbstbestimmt an die Öffentlichkeit treten. Selbstbestimmt und unter dem Prinzip «von Menschen und für Menschen im Autismus-Spektrum» verfolgen die Mitglieder des Vereins Aspies folgende Ziele:
• Aufklärung und Information über Autismus,
• Vertretung der Interessen autistischer Menschen,
• Schaffung von Möglichkeiten zum Austausch und zur Vernetzung unter autistischen Menschen im Sinne der Selbsthilfe.