Vor ein paar Minuten überquerte eine Gämse die Wiese hinter uns, blieb kurz stehen und schaute in unsere Richtung. Als sie von uns keine Gefahr witterte, ging sie gemütlich grasend weiter. Leise plätschert ein kleiner Bach neben uns durch den Wald, die Grillen zirpen und der Kerbel vor uns im Feld wiegt seine weissen Köpfe sanft im Wind. Die einzigen Geräusche, die wir hören, kommen von der Natur. Die Autos, die heute an unserem Bürofenster vorbeifahren, können wir an einer Hand abzählen. Wir sind mitten im Jura und gleichzeitig mitten in unserem Alltag.
Bevor wir vor fast vier Jahren den Entschluss fassten, unser Hab und Gut auf ein Minimum zu reduzieren, stand da der Wunsch, möglichst viel von der Welt zu sehen und die Möglichkeit zu haben, da unser Zuhause und Büro aufzuschlagen, wo es uns gefällt. Wir suchten die Freiheit und fanden viel mehr. Zum Beispiel eine neue Verbundenheit mit der Natur. Es ist auch jetzt immer noch ein unglaublich schönes Gefühl, morgens durch das Dachfenster zu sehen, wie uns die Blätter der Bäume zuwinken. Oder im dunklen Wald die Nachtigall lauthals singen zu hören – um ein Uhr nachts. Oder wie jetzt auf einer Bank zu sitzen, den Wind zu spüren und diesen Text zu schreiben, umgeben von Natur.
Manchmal werden wir gefragt, ob wir es nicht vermissen, eine Wohnung zu haben. Aber lustigerweise ist es für uns mittlerweile andersrum: Wenn wir mal für ein paar Tage in einer Wohnung sind, dann vermissen wir es, draussen in der Natur zu sein. Wir vermissen dann all die kleinen Dinge, die wir so zu schätzen gelernt haben. Das Prasseln des Regens auf dem Dach, die Schmetterlinge während der Kaffeepause oder einfach nur das Gefühl, direkt vom Haus aus in den Wald sehen oder gehen zu können. Das mag alles etwas gar schön und kitschig klingen und vielleicht auch das Bild bestätigen, welches der Hashtag vanlife über die sozialen Medien verbreitet: Es ist alles super easy, die Aussicht ist immer genial und all der Verzicht ein Spaziergang im Park.Nun, die Aussicht ist nicht immer so genial wie heute und es kommt auch vor, dass wir auf lärmenden Autobahnraststätten übernachten. Aber sonst? Das Leben im Bus ist für uns tatsächlich mittlerweile easy, weil wir gelernt haben, mit unerwarteten Situationen umzugehen und zu geniessen, dass wir nicht wissen, was uns am nächsten Tag erwartet. Und weil wir die ganz normalen alltäglichen Herausforderungen, zum Beispiel das Beschaffen von Wasser oder das Entsorgen des Abfalls, nicht mehr als lästige Pflichten sehen, sondern gemerkt haben, dass damit echte Erlebnisse verbunden sind.
In Kasachstan konnten wir einmal keinen Brunnen finden und hielten kurzerhand vor einer Telekommunikationsfirma, als wir sahen, dass deren Gärtner gerade dabei war, den Garten zu bewässern. Schlussendlich halfen uns sämtliche Mitarbeiter der Firma unseren Tank zu füllen, jeder wollte ein Selfie mit uns und dem Bus und wir kamen dem Rätsel, der in Zentralasien überall präsenten goldenen Zähne – dabei sprechen wir nicht von einem Zahn, sondern von total vergoldeten Zahnreihen – etwas näher. Es sei einfach gerade ein Trend, sagten sie und ja doch, es koste schon recht viel. Die Stimmung war freundschaftlich und ausgelassen und Dylan meinte, es könnte sich also lohnen, jemandem ein paar Zähne herauszuschlagen. Die Männer lachten und es funkelte nur so um uns herum. Der Trend sei schon gut, übersetzt dann der eine, der fliessend Englisch konnte, weil sich die Männer, die goldenen Zähnen hätten, jetzt weniger oft prügeln würden. „Es ist zu teuer, wegen einer Unverschämtheit dein Gold zu verlieren.“ Wir hatten diesmal nicht nur 100 Liter Wasser erhalten, sondern auch einen kleiner Exkurs in die Kultur.
Auch das tägliche Finden eines geeigneten Ortes zum Übernachten ist für uns zur Norm geworden. Im tadschikischen Pamir, also auf fast 4000 Meter Höhe, waren wir mit Kopfschmerzen und müde von einem langen Tag auf der Suche nach einem Schlafplatz, als wir von einer Familie von Yakzüchtern eingeladen wurden. Wir überquerten mit Hilfe der Anweisungen der Kinder den reissenden Fluss vor ihrem Haus und sassen wenig später in einer gemütlichen kleinen Lehmhütte. Im Ofen prasselt ein Feuer, auf dem der Tee gekocht wurde. Der ältere Mann stellte zwei dampfende Tassen vor uns hin, bevor er seinen Gebetsteppich hervorholte, um sich gegen Mekka zu verbeugen. „Sollen wir raus?“ fragten wir, weil wir den intimen Moment nicht stören wollten. Er schüttelte den Kopf und lächelte uns zufrieden an. „Ihr seid unsere Gäste, bleibt sitzen.“
Das nachfolgende Abendessen, welches seine Frau reichlich auf dem Teppich vor uns ausbreitete, füllte mehr als den Magen. Und als wir am nächsten Morgen über den nun viel weniger hohen Fluss zurückfuhren, hatten wir gelernt, dass Gletscherflüsse morgens weniger Wasser haben und dass je höher die Berge, desto herzlicher die Menschen sind.
„Oh Scheisse!“, ist alles was Dylan noch sagen konnte. Wie ich aufblickte, sah ich nur noch ein Auto seitwärts auf uns zufliegen. Ein unglaublich lautes Krachen folgte und dann das pure Chaos. Im Kopf und auf der Strasse.
Wir stiegen beide praktisch unverletzt aus, ich konnte zwar mein rechtes Bein nicht belasten, aber egal: Hauptsache wir leben! Weiter vorne begann ein total zerquetschtes Auto zu qualmen. Dylan rannte hin und zog die stark blutende Beifahrerin heraus. Ich atmete schwer, sass, weil ich mein Bein nicht belasten konnte, hilflos auf der Leitplanke; versuchte zu verstehen was da gerade passiert war. Menschen kamen um zu helfen. „Was ist passiert?“, fragten sie? Die Autobahn sah aus wie ein Trümmerfeld, hinter uns lag das Auto, welches auf uns zugeflogen kam, in tausend Stücke zerteilt. Was war passiert? Ich wusste es nicht.
Sieben Stunden später stand Dylan vor den Publikum und hielt einen Vortrag. Die Jeans hatten Blutflecken und das Publikum, welches vom „Horrorunfall“ auf der A4 kurz vor Aachen (Deutschland) aus den Nachrichten gehört hatte, war sichtlich betroffen. Als Dylan zum Ende davon erzählte, wie wichtig es ist, an seine Träume und an sich selbst zu glauben und im Leben zu tun, was einen glücklich macht, wurden uns zwei Dinge so richtig bewusst: Wir könnten tot sein. Aber wir wären von der Welt gegangen mit dem Wissen, dass wir unser Leben so leben, wie wir es lieben. Dieser krasse Perspektivenwechsel war uns von einem lebensmüden Falschfahrer regelrecht auf die Motorhaube geknallt worden. Und uns ist seither bewusst, dass wir keine Zeit haben, Dinge zu verschieben. Daran mögen wir im Normalfall nicht denken.
Natürlich machte es uns Angst, 2016 unsere geregelten Jobs und damit das geregelte Einkommen aufzugeben. Natürlich hatten wir Bammel davor, wie es sein wird, ohne Wohnung zu leben. Aber wir taten alles mit unserem Herzen und es kam gut. Was nicht heisst, dass es immer einfach war. Nach dem Unfall mussten wir unseren ersten Bus, also unser Zuhause innert fünfzehn Minuten ausräumen und auf dem Schrottplatz zurücklassen, wir mussten innerhalb weniger Tage einen neuen Bus kaufen und Dylan verbrachte wiederum Wochen mit dem Ausbau, während ich noch Monate später Schmerzen hatte. Aber waren wir unglücklich darüber, was uns passiert war? Hatten wir in Erwägung gezogen, das Leben „on the road“ aufzugeben? Nein, wir waren (und sind es heute noch) zutiefst betroffen, dass an jenem Tag, an jenem Ort, zwei Menschen sterben mussten. Aber seitdem schätzen wir jeden Tag viel intensiver als zuvor. Uns hat das Erlebnis gezeigt, dass wir 100% glücklich sind mit unserem Alltag. So, dass wir nach dem Unfall nicht einmal darüber diskutierten, ob wir wieder einen Bus wollen oder nicht. Es war für uns beide absolut klar, dass wir weitermachen. Schicksalsschläge werden uns allen immer wieder vor die Füsse geworfen, was uns bleibt, ist die Wahl der Perspektive. Wir entscheiden uns seither bewusst jeden Tag fürs Leben, für den intensiven Alltag als Nomaden.
Wir sind vom 26. Oktober bis zum 11. November 2019 auf Vortragstournee in der Deutschschweiz, unter anderem in Zürich, Bern, Basel, Aarau, Luzern und Chur. Mehr Infos unter www.explora.ch
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