Dann beobachten wir eine Weile die Ameisen, riesige Exemplare sind es, mit dicken Körpern und kraftvollen Zähnen. Ich mache ein Foto von meiner Großmutter vor der Lärche. Ihr Blick ist entschlossen, mit der Hand umklammert sie ihre kleine Handtasche. Auf dem Rückweg zählen wir Pilze. Ich schiele immer wieder verstohlen zu ihr, mustere ihr Profil, ihre Ohren, die ich geerbt habe und ihre Nase, die ich nicht geerbt habe. Ich versuche in ihrer Miene zu entziffern, was in ihr vorgeht.
«Der Baum gehört mir für die nächsten 50 Jahre, dann muss man die Lizenz erneuern.» sagt sie schliesslich beiläufig, «Familienmitglieder dürfen sich dazugesellen, wenn sie wollen.». Ich blinzle zweimal irritiert. Irgendwo knackt Holz, das Echo wandert über die Lichtung, auf der wir stehen. Dann sage ich nach einer Weile «Ich würde gerne unter der Lärche verstreut werden.» – «Prima, dann sorg ich dafür, dass man die Lizenz verlängert.». Wir schweigen wieder. Die Tatsache, dass meine Grossmutter wahrscheinlich noch eine ganze Weile nicht sterben wird, spielt in diesem Moment keine Rolle. Sie ist mit ihren siebenundsiebzig Jahren topfit. Sowohl physisch, als auch geistig. Ihr Körper ist klein und schlank, ihr Kopf intellektuell und belesen, und ihre Seele philosophisch und tiefgründig und vielleicht nimmt sie gerade deshalb die letzte Phase ihres Lebens so ernst.
Meine Grossmutter räumt auf. Sie regelt die Dinge. Sie plant und bestimmt, das kann sie gut. Sie verschenkt, verkauft, wirft weg, braucht auf. Möbel, Schmuck, Bücher, Erinnerungen. Sie verteilt die Bruchstücke ihres Lebens wie Flyer an einem Bahnhof. Ihre Beerdigung ist bis ins Detail geplant. Mit einer säuberlichen Liste aller Personen, die eingeladen sind und all jener, die ausdrücklich nicht eingeladen sind. Wir wissen, dass meine Grossmutter sterben will. Sie will geordnet und geregelt gehen und am liebsten dann, wenn sie es entscheidet. Wenn sie könnte, würde sie am Schalter höchstpersönlich vorbei gehen und ein Datum festlegen. «Ja, der 29. klingt gut. Können Sie mir den reservieren?» Bloss nicht zu lange warten. «Aufgeschoben ist dann plötzlich doch aufgehoben» sagt sie gern.
«Und Grandpa? Wird er auch unter der Lärche verstreut?» frage ich und meine Grossmutter macht eine abschweifende Bewegung «Aber natürlich wird er das.» Mein Grossvater ist nicht so topfit, weder physisch noch geistig. Sein Körper gibt Schritt für Schritt nach. Mal bricht da ein Knochen, dann verklumpt sich dort etwas. Und wenn die Leute jeweils ganz erschüttert sind, sage ich: «Meine Güte, das ist absolut angemessen, man lasse die alten Leute doch bitte in Würde alt werden. Und dazu gehören eben auch Hüftgelenkprothesen, Arthrosen und Thrombosen.» Es hat etwas Seltsames, eine scheinbar unsterbliche Grossmutter zu haben, die kerngesund, sportlich und zielgerichtet auf den Tod zusteuert, während sich zuhause der Grossvater ganz langsam und überhaupt nicht zielgerichtet auflöst.
«Wie gehts ihm übrigens?», frage ich. Wir haben den Parkplatz fast erreicht, von Weitem sehe ich bereits das Auto. «Ach, du weisst schon, es geht. Er hat Schmerzen. Ich helfe ihm, er kann ja nicht mehr ohne mich. Ich muss ja jetzt auch schon wieder zurück zu ihm, er kann ja nicht lange allein bleiben.» Meine Grossmutter klingt müde und ein Bisschen zerknirscht. Ich lege den Arm um sie und so torkeln wir das letzte Stück aus dem Wald. Im Auto streckt sie mir wie immer die Eukalyptus Ricola entgegen. «Nimm», sagt sie und ich nehme, wie immer. Wir fahren nicht los. Meine Grossmutter muss ganz dringend zurück zu meinem Grossvater und deshalb beginnen wir erst jetzt mit den ganz tiefen Gesprächen. «Und, hilft dir das Johanniskraut? Ich hab noch eine Packung zuhause, kannst sie haben, ich kann davon nicht schlafen.» Meine Grossmutter hat oft Nebenwirkungen. Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Atemnot, Ausschlag. Sie gibt den Medikamenten die Schuld und es ist gut, Medikamente zu schlucken, die an etwas Schuld sein können, das ganz woanders seinen Ursprung hat. «Ja, naja. Ich kann noch nicht so recht sagen, ob es hilft. Ich bin immer noch dumpf, muss oft weinen.» Und auch jetzt beginnen meine Augen zu brennen und ich schlucke leer. «Ach mein Liebes, es wird. Es wird. Die Psyche ist ein grosses Rätsel. Du darfst die Traurigkeit zulassen, du bist niemandem Rechenschaft schuldig. Man muss dem Zeit geben.» Und auch jetzt meint meine Grossmutter sowohl das Medikament, als auch den Ursprung, der ganz woanders liegt. Wir umarmen uns über die Handbremse hinweg.
Wir reden noch etwa eine halbe Stunde über alles, was absolut nicht dringend gewesen wäre, bis meine Grossmutter dann wirklich sehr dringend zu meinem Grossvater zurück muss. Vorher lädt sie mich zuhause ab und wir machen einander nochmal Mut, dann sehe ich ihr beim Wegfahren zu. Eine unfassbar kleine, zierliche Frau in einem unfassbar riesigen, silbernen Auto. Sie zirkelt viel zu vorsichtig und viel zu genau aus dem Parkplatz hinaus und winkt noch einmal, bevor sie weg ist.
«Und, wie war der Baum?»
«Schön. Gross. Ich hab ein Foto gemacht, warte ich schicke es dir.»
«Oh ja, der ist toll. Da hats genug Platz drunter.»
Wir lachen beide.
Dann fragt meine Mutter zögernd: «Und, wie war sie?»
«Sie war ruhig, wir haben viel philosophiert. Ich glaube, es geht ihr nicht so gut. Grandpa, du weisst schon.»
Meine Mutter schweigt. Sie und meine Grossmutter haben eine komplizierte Beziehung. Da war Liebe, aber da waren auch schwierige Verhältnisse. Sie erzählt mir offen davon, aber das bleibt unter uns.
«Mama, sag mal, wie gehts dir?»
«Du, das würd ich eigentlich gerne dich fragen. Mir gehts bis auf ein Bisschen Kopfschmerzen gut.»
Meine Mutter hat oft Kopfschmerzen und ab und zu auch Migräne aber nie Nebenwirkungen.
«Tablette genommen?» frage ich mahnend.
«Ja. Rechtzeitig sogar!»
«Toll, gratuliere!»
«Wie geht es dir, meine Liebe?»
«Mir gehts. Mir gehts einfach.»
«Das ist gut. Das ist genug. Ich bin stolz auf dich.»
Meine Mutter sagt immer das, was ich brauche. Mir brennen wieder die Augen, ich vermisse sie.
«Ich vermiss dich, Mama.»
«Ich dich auch. Du bist jederzeit willkommen, das weisst du.»
Kurz gehe ich in Gedanken über den Kiesweg, durch unsere rote Tür in die Küche, rieche den Geruch von Zuhause, von Holz und Kaffee und Familie, spüre die Wärme, die ich in dieser Form nur dort bekomme, sehe meine Mutter lesend auf dem Sofa, sie blickt auf, lächelt und ihre Augenwinkel bilden diese kleinen Fältchen, die ich so liebe. Ich mustere ihr Profil, lege es wie ein Transparent Papier über das Profil meiner Grossmutter, sehe die Verwandtschaft und die Unverwandtschaft. Sehe die Ohren meiner Mutter, die ich nicht von ihr habe aber die Nase, die genau gleich ist, wie meine.
«Ich komme ganz bald.» sage ich.
Dieser Artikel wurde von Läura Maurer, Studentin 2BA Illustration Fiction an der Hochschule Luzern – Design Film Kunst verfasst und am Schreibwettbewerb von FH SCHWEIZ eingereicht.
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