Die hier vorgestellte - vom SBAP ausgezeichnete - Masterarbeit beleuchtet deshalb genau diesen Aspekt: Welche Emotionen erlebt eigentlich eine Partnerin, ein Partner oder ein Elternteil?
Aber nur, will s wehtuet, heisst s nöd, dass d Liebi ufhört.
So formuliert Michelle Halbheer – Tochter einer Mutter mit einer Heroinabhängigkeit und bekannt als das «Platzspitzbaby» – eindrücklich die ständige innere Zerrissenheit, mit der sich Angehörige im Umfeld Sucht konfrontiert sehen (TeleZüri 2020). Während Menschen mit einer Suchtthematik ein fester Bestandteil psychologischer Forschung darstellen (Bundesamt für Gesundheit 2021), fehlt es noch immer an Studien mit Fokus auf die Differenzierung der einzelnen erlebten Emotionen negativer Valenz von Angehörigen in der Psychiatrie im Allgemeinen und zu jenen im Umfeld Sucht im Besonderen – trotz ihrer enorm wichtigen Stellung in der Betreuung und der Behandlung der Erkrankten (McPherson et al. 2017). Zeit, ihnen eine Stimme zu geben.
Angehörige sind äusserst wichtige Bezugspersonen im Leben von Konsumierenden (Ventura; Bagley 2017). Wenig überraschend ist deshalb der aktuelle Stand der Forschung, welche ihnen eine tragende Rolle im Beenden einer Behandlung (McPherson et al. 2017) sowie der Rückfallprävention, der Rehabilitation und dem Gesamterfolg der Behandlung (Jalali et al. 2015) zuschreibt. Durch ihre eigene hohe Belastung haben sie jedoch auch selbst ein hohes Risiko für Erkrankungen und rufen ihrerseits hohe Gesundheitskosten hervor (Ventura; Bagley 2017). Der eigene emotionale Distress der Angehörigen hat also eine besonders praktische Relevanz in mehrfacher Hinsicht: einerseits für die Angehörigen selbst wie auch für die Konsumierenden.
Des Weiteren fehlt es an einem Instrument zur Emotionsdiagnostik bzw. Symptomerfassung für Angehörige im Umfeld Sucht. Es existiert einzig die Significant Other Checklist bzw. der darauf aufbauende Significant Other Survey (Benishek et al. 2006). Dabei handelt es sich um ein halbstrukturiertes Interview, eingeteilt nach und fokussiert auf inhaltliche Kriterien, nicht aber auf die erlebten Emotionen. Mit einer Erfassung und einer Systematisierung des Emotionsraums können die Rechtfertigung und somit die Finanzierung von Angehörigenarbeit in der Schweiz auf wissenschaftlichen Resultaten abgestützt werden. Das für diese Studie entwickelte Instrument zur Emotionsdiagnostik in Form eines Fragebogens zum aktuell erlebten emotionalen Distress hilft zudem für das tiefere Verständnis der Angehörigen sowie die Behandlungsplanung und somit für eine effizientere sowie effektivere Beratung oder Therapie in der Praxis (Sulz; Schmalhofer 2010).
Aufgrund beinahe fehlender systematischer Erhebung des ganzen Emotionsraums (mit Fokus auf den emotionalen Distress) von Partner:innen und Eltern im Umfeld Sucht wurde für eine möglichst breite Wissensgewinnung ein Mixed-Methods-Ansatz – also ein sowohl qualitativer als auch quantitativer Forschungszugang – gewählt. Es handelt sich um ein sequenziell-exploratives Design, bei welchem aufgrund der qualitativen Ergebnisse die quantitative Erhebung erfolgt. Die Rekrutierung der Stichprobe erfolgte über die ada-zh (Anlaufstelle Angehörige Sucht). In einem ersten Schritt wurde der Emotionsraum der Angehörigen bezüglich Emotionen negativer Valenz im Zusammenhang mit der Suchtthematik auf Grundlage deduktiver Strukturierung induktiv erschlossen (n = 19 [2 Fokusgruppen und 11 Einzelinterviews]). Zur Sicherstellung einer stringenten Gliederung sowie als Basisstruktur und somit deduktive Grundlage diente das sogenannte OCC-Modell nach Ortony, Clore und Collins (1988). Dieses inkludiert die Valenz-Dimension, während gleichzeitig ein möglichst kleines subjektives Moment bei der Emotionseinteilung postuliert wird (Horstmann, Dreisbach 2017). Ein zweiter quantitativer Schritt (n = 76) beinhaltete, aufbauend auf den qualitativen Resultaten, die Konzipierung eines Fragebogens, einerseits zur Emotionsquantifizierung und andererseits als Instrument zur Emotionsdiagnostik.
Die Grundstruktur des OCC-Modells konnte übernommen werden; 25 von insgesamt 35 Emotionen wurden induktiv ergänzt. Partner:innen und Eltern fühlen sich emotional stark und gleichermassen belastet (allgemeiner emotionaler Distress). Es zeigen sich die Emotionen ratlos, besorgt und gezwungen als die häufigsten, ratlos, machtlos und besorgt als die intensivsten.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass es Partner:innen und Eltern vor allem an Sicherheit, Orientierung und Kontrolle fehlt – einem psychologischen Grundbedürfnis. Nebst der in der Studie fokussierten angehörigenübergreifenden Deskription der einzelnen Emotionen wird sich in Therapie und Beratung vermutlich die individuelle Emotionsdiagnostik als spannender und hilfreicher erweisen. Zur Anamnese-Erhebung sowie Behandlungsplanung in Beratung und Therapie und nicht zuletzt zur Förderung des Verständnisses für das eigene Erleben kann der Fragebogen als besonders vielversprechend angesehen werden.
Abschliessend gilt es zu beachten, dass – trotz der neuen und notwendigen Fokussierung auf die Wichtigkeit und die Individualität des einzelnen Angehörigen und sein bzw. ihr Erleben – auch sie wiederum in ein System eingebunden sind und darum auch umgekehrt die systemische und holistische Betrachtungsweise nicht vergessen werden darf. So könnte der Fragebogen zum Beispiel nicht nur im Einzel- sondern auch im Paar- oder Familiensetting als Mass für die Veränderung eingesetzt werden, indem dieser in regelmässigen Abständen ausgefüllt wird. Das Sichtbarmachen einer Veränderung kann dabei als Förderung von Hoffnung verstanden werden (Knuf 2012). Und für die Angehörigen erscheint es bei all dem Schmerz am allerwichtigsten – das wurde in den Interviews immer wieder deutlich –, genau diese nicht zu verlieren. Es gilt, sie in der Beratung und der Therapie dabei zu unterstützen. Zum Abschluss wollen wir darum den berührenden Worten einer Mutter auf die Frage, was sie an einem für den Interview-Einstieg frei gewählten Bild angesprochen habe, lauschen: «Erstens einfach so das Grün, das ist so ein bisschen meine Farbe. Und mich dünkt, es geht so gegen oben ein wenig auf, und das ist so meine Hoffnung, die ich einfach immer noch habe.»
Cynthia Jucker arbeitet seit 2021 – nebst ihrer Hauptanstellung in einem Ambulatorium der Stadt Zürich – bei der Angehörigenberatung im Umfeld Sucht ada-zh (Angehörigenvereinigung Drogen-Abhängiger Zürich, heute Anlaufstelle Angehörige Sucht Zürich). Die Arbeit mit den Angehörigen führte zur Idee bzw. zeigte die Notwendigkeit der Beleuchtung dieser Thematik in einer wissenschaftlichen Arbeit. Für ihre herausragenden Leistungen und ihr soziales Engagement während des Studiums erhielt sie neben dem SBAP-Preis für Masterarbeiten zudem ein Stipendium der Hirschmann-Stiftung.
Der SBAP verleiht den Preis fĂĽr Masterarbeiten fĂĽr herausragende Arbeiten im konsekutiven Masterstudiengang am Departement Angewandte Psychologie.
Pro Vertiefungsrichtung (A+O, KlinP, E+P) wird an der Diplomfeier jährlich je ein Preis vergeben. Die drei gleichwertigen Preise gehen an innovative angewandt-psychologische Masterarbeiten, die Neues explorieren und noch wenig bearbeitete Fragestellungen der Angewandten Psychologie thematisieren. Die ausgezeichneten Arbeiten werden im punktum. von den Autor:innen vorgestellt.
Der Schweizerische Berufsverband für Angewandte Psychologie gibt Psychologinnen und Psychologen in diesem Land eine starke Stimme. Sie profitieren von den Aktivitäten für eine gute Bildung, eine starke Interessensvertretung in der Politik und für ein Qualitätslabel, welches für seriöse, wissenschaftlich fundierte und praktisch erprobte psychologische Leistungen steht.
Nächster Anlass beim SBAP
28.10.2024: Fortbildung – Mentale Gesundheit im Arbeitsleben
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