Health-Apps gibt es zuhauf, doch so gross die Motivation beim Herunterladen auch ist: Nach ein paar Wochen hat sie meistens wieder deutlich nachgelassen. Am Institut für Wirtschaftsinformatik der ZHAW wird seit 2017 untersucht, wie digitale Begleiter die Behandlung von chronischen Krankheiten unterstützen können. Zusammen mit dem Industriepartner Helmedica AG wurde dazu eine App entwickelt, die den Austausch von Adipositaspatientinnen und -patienten mit Gesundheitsfachleuten ins Zentrum stellt. «Wenn man weiss, dass auch die Ärztin in der App einsehen kann, ob man vereinbarte Therapiemassnahmen einhält und das beim nächsten Termin auch thematisiert, steigt die Verbindlichkeit stark», ist Instituts- und Projektleiter Andri Färber überzeugt.
Im ersten Praxisteil des von Innosuisse geförderten Forschungsprojekts wurde nun die Gebrauchstauglichkeit der App getestet, wie die wissenschaftliche Mitarbeiterin Mirella Moser sagt. Gut zwei Dutzend Erkrankte sowie mehrere Gesundheitsfachleute wandten den digitalen Begleiter über einige Wochen und zwei Arzttermine hinweg an. Es wurden darin etwa Krankheitsgeschichte, Essverhalten oder Fragen für die kommende Konsultation festgehalten, aber auch Therapiemassnahmen oder Links der Ärztinnen und Ärzte für weiterführende Informationen. Gerade Letzteres sei nicht zu unterschätzen, betont Färber. «Heute wird in Konsultationen viel Zeit darauf verwendet, die von den Erkrankten ergoogelten Diagnosen richtigzustellen und einzuordnen.»
«Die Patientinnen und Patienten fühlten sich mit der App nicht nur besser vorbereitet», stellt Moser nach einer ersten Auswertung der Ergebnisse fest. «Sie gingen auch mit mehr Selbstbewusstsein ins Gespräch.» Geschätzt hätten die Testpersonen ausserdem, dass der digitale Begleiter ihnen einen Rahmen geboten habe, um das eigene Verhalten und Befinden zu reflektieren und festzuhalten.
Es war, als hätte man seine Ufzgi nicht gemacht.
Ursula Raths, eine der Testpersonen
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Nicht zuletzt habe das gemeinsame Erarbeiten des Therapieplans diesen verbindlicher gemacht, sagt die Forscherin. «Wenn ich die vereinbarten Massnahmen mal nicht einhielt, hatte ich gleich ein schlechtes Gewissen», erzählt Ursula Raths, eine der Testpersonen, lachend. «Es war, als hätte man seine Ufzgi nicht gemacht.» Der medizinischen Praxisangestellten kam die Teilnahme am Forschungsprojekt damals gerade recht. Seit der Menopause habe sie Jahr für Jahr etwas zugenommen, was sich irgendwann auch auf ihre Kondition ausgewirkt habe. «Wie eine alte Dampflok», erzählt die 65-Jährige, habe sie sich eines Tages am Berg gefühlt. Die App habe ihr nicht nur bewusster gemacht, was sie tatsächlich esse und trinke, sondern auch den Einstieg in neue Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten erleichtert. So habe die gemeinsame Anwendung des digitalen Assistenten mit ihrer Ärztin zutage gefördert, dass sie eigentlich gut auf das Frühstück verzichten könnte. Intervallfasten, gepaart mit viel Bewegung, stellte sich für sie als der ideale Weg heraus.
Ich konnte viel individueller beraten, wo ich sonst vielleicht vorgespurtere Wege eingeschlagen hätte.
Matthias Günthard, Arzt
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Den Gesundheitsfachleuten wiederum habe die App dabei geholfen, sich schneller und besser in die Lage der Betroffenen zu versetzen und sich gezielter auf die Konsultation vorzubereiten, ergänzt Färber. «Die Zeit für die Anamnese konnte so drastisch verkürzt werden.» Ausserdem falle die Qualität der Daten zu Krankheitsgeschichte und Gesundheitszustand oft höher aus, wenn sich Patientinnen und Patienten zu Hause und in Ruhe dazu Gedanken machen können, das habe eine andere Studie der ZHAW zum Thema ergeben. «Der digitale Begleiter macht es leichter, zusammen mit den Patienten präzise auf sie zugeschnittene Massnahmen festzulegen», sagt auch Arzt Matthias Günthard, der am Projekt teilgenommen hat. «Ich konnte viel individueller beraten, wo ich sonst vielleicht vorgespurtere Wege eingeschlagen hätte.»
An den bisherigen Ergebnissen hat Färber aber etwas besonders überrascht: «Es kam durchaus auch den Patientinnen und Patienten entgegen, wenn die Konsultation effizienter ablief und der Arzt schneller zum Punkt kam», sagt er. «Das hätte ich so nicht erwartet.» Es braucht also vielleicht gar nicht immer viele einleitende Worte, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich eine betroffene Person wohl und ernst genommen fühlt. «Wenn jemand über die gesundheitlichen Probleme gut Bescheid weiss, dürfte das oft ausreichend Vertrauen und Glaubwürdigkeit schaffen.»
In der zweiten Testphase des Forschungsprojekts soll nun geprüft werden, wie die App zur Einhaltung von Therapiemassnahmen beitragen kann. Diese sogenannte Adhärenz ist ein entscheidender Faktor der Volksgesundheit und liegt gemäss WHO heute bei durchschnittlich 50 Prozent, wie Färber weiss. Wie gut sich jemand an vereinbarte Ziele hält, hängt aber auch von deren Form ab: So nehmen zum Beispiel neun von zehn Diabetikerinnen und Diabetikern regelmässig die verschriebenen Medikamente ein. Doch nur die Hälfte hält auch wie empfohlen Diät, und gerade einmal ein Fünftel nimmt an einem Fitnessprogramm teil. Der Projektleiter ist sicher: «Wenn die durchschnittliche Adhärenz nur schon auf 60 oder 70 erhöht werden könnte, hätte dies gewaltige Wirkung.»
Sowohl die eigenen Aufzeichnungen als auch die Sensordaten zeigen, dass eine Person nicht wie abgemacht zwei Mal pro Woche schwimmen geht.
Andri Färber, Projektleiter
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Der an der ZHAW entwickelte digitale Begleiter erhebt zum einen die tatsächliche Adhärenz einer Person und gleicht diese mit den festgelegten Therapiezielen ab – mittels Selbstdeklarationen der Testpersonen, Trackerarmband und einer an die App angeschlossenen Waage, die die Zahl der zurückgelegten Schritte oder Gewichtsveränderungen messen. Zum anderen soll ein mit ChatGPT erstellter Konversationsagent gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten etwa ergründen, warum eine vereinbarte Massnahme nicht eingehalten wurde, und nach alternativen Wegen suchen, wie sich diese Ziele dennoch erreichen liessen. Färber illustriert das mit einem Beispiel: «Sagen wir, sowohl die eigenen Aufzeichnungen als auch die Sensordaten zeigen, dass eine Person nicht wie abgemacht zwei Mal pro Woche schwimmen geht», so der Forscher. Vielleicht fördere der Austausch mit dem digitalen Assistenten zutage, dass sich die Person vor anderen sehr unwohl fühle im Badeanzug. Gemeinsam gelange man dann möglicherweise zur Lösung, frühmorgens in die Badi zu gehen oder das Schwimmen an eine wenig frequentierte Stelle am See zu verlegen.
Schon zu Beginn des Forschungsprojekts war klar, dass digitale Assistenten dereinst nicht nur bei Adipositas zur Anwendung kommen sollen, sondern auch bei anderen chronischen Krankheiten. Industriepartner Helmedica AG hat sogar bereits eine erste Variante auf den Markt gebracht: Für das Kantonsspital St. Gallen implementierte das Unternehmen einen digitalen Begleiter für COPD-Patientinnen und COPD-Patienten. Bei dieser chronischen Lungenerkrankung sei es fundamental, möglichst schnell auf plötzliche Verschlechterungen zu reagieren, erklärt Färber. Die Erkrankten würden darum allabendlich in der App einen kurzen Fragebogen ausfüllen. Werde ein bestimmter Grenzwert an zwei aufeinanderfolgenden Tagen überschritten, biete das Spital die Person automatisch zu einem Kontrolltermin auf.
Solch neue Anwendungen sollen bald auch in grossem Stil Schub erhalten. So will die E-Health-Anbieterin AD Swiss digital unterstützte Behandlungsprogramme für chronische Erkrankungen weiter voranbringen, wie Färber sagt. Für dieses Unterfangen habe das Unternehmen – dem er künftig als Geschäftsführer vorstehen wird – neben den bisherigen Aktionären wie etwa dem Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH auch mehrere neue Investoren gewinnen können, unter anderem den Krankenversicherer Swica und die Unternehmensgruppe Galenica. «Dieses Joint Venture steht für das Vertrauen in das grosse Potenzial von digitalen Begleitern.»
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Dieser Artikel ist als Erstpublikation im ZHAW-Impact Ausgabe 3/2023Â erschienen.
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