Autor: Mirko PlĂĽss
St. Gallen, ganz in der Nähe des Bahnhofs. Im Wartezimmer des «Ostschweizer Vereins für das Kind» liegen Holzspielzeuge auf einer Spieldecke, nebenan stehen ein Bäbiwagen und ein Bauernhof. Auf Wandgestellen – für Kleinkinderhände unerreichbar – sind Flyer und Ratgeber drapiert: «Familienplanung», «Stillberatung», «Kinder-Notfälle». Und mittendrin: «Von Mann zu Mann: In der Vaterrolle wachsen.»
Im Gespräch zeigt sich der Väterberater redegewandt und gleichzeitig als aktiver Zuhörer. Er lebt im Toggenburg – und ist auch privat in einer nicht alltäglichen Rolle. Mit seiner Partnerin, ebenfalls Sozialarbeiterin, hat er eine achtjährige Tochter. Daneben nehmen sie als sozialpädagogische Pflegefamilie fremdplatzierte Kinder auf. Aktuell lebt ein sechsjähriges Mädchen im Haushalt.
Kräutli und seine Partnerin waren einst in einem alten Bus 14 Monate lang durch Afrika gefahren und haben dann zusammen Soziale Arbeit an der ZHAW studiert. Ihren Lebensentwurf machten sie gleich zum gemeinsamen Bachelorprojekt: «Wir versuchen, uns alles fifty-fifty zu teilen. Die Erwerbsarbeit, die Care-Arbeit und die sozialpädagogische Arbeit zu Hause.»
Wir versuchen, uns alles fifty-fifty zu teilen. Die Erwerbsarbeit, die Care-Arbeit und die sozialpädagogische Arbeit zu Hause.
Marcel Kräutli
Die obligate Frage: Muss man unbedingt selber Vater sein, um andere Väter beraten zu können? Kräutli schiesst nicht aus der Hüfte, wägt seine Antwort ab: «Es ist auf jeden Fall klar, dass es für viele beratene Väter eine Rolle spielt, dass auch ich meine Erfahrungen gesammelt habe», sagt er. «Die Frage stellt sich in der Sozialen Arbeit ja ganz grundsätzlich: Wie viel Persönliches lasse ich in Beratungen einfliessen? Ich bin da meistens recht zurückhaltend und biete persönliche Erfahrungen als eine Möglichkeit unter vielen an.»
Die Männer, die sich von Kräutli Unterstützung holen, kommen aus ganz unterschiedlichen Familienmodellen und sozialen Schichten. Doch ihre Sorgen einen sie. Geht es um fachliche Fragestellungen wie Ernährung, Wachstum, Entwicklung, Schlaf ist es für Väter nicht relevant eine männliche Beratungsperson als Gegenüber zu haben. In diesen Bereichen steht schlicht die Kompetenz der beratenden Person im Vordergrund. «Sie fragen mich nicht, wie viel Gramm Milchpulver es pro Schoppen braucht – was meine Kolleginnen von der Stillberatung besser beantworten können, da sie im Gegensatz zu mir, über eine entsprechende Aus- und Weiterbildung verfügen», erzählt Kräutli. «Vielmehr sind es psychosoziale Themen, bei denen sie froh sind, dass das Gegenüber ein Mann ist. Weit verbreitet ist unter Vätern das Gefühl, nicht zu genügen.» Oft sei ein starker Leidensdruck da. Familie, Beruf, Hobby, Paarbeziehung und die Ansprüche an sich selber. Mittels Auslegeordnung kommt man dann den Knackpunkten auf die Schliche.
Kräutli erarbeitet mit den Vätern Handlungsvorschläge. Gemeinsam werden diese ein paar Tage oder Wochen später überprüft. «Es muss danach nicht alles perfekt sein, aber genügend gut, damit niemand mehr darunter leidet.» Das Angebot ist freiwillig und niederschwellig, nur ein sehr kleiner Teil der Männer wird beispielsweise von den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) zu einem Besuch verpflichtet.
Oft geht es bei den Beratungen um Paarthemen. «Elternwerden ist für Frauen und Männer einfach ein brutaler Einschnitt und hat das Potenzial, einen so richtig durchzurütteln», sagt Kräutli. «Da müssen sich beide erst wieder finden.» Bei der Organisation liege es ihm fern, den Paaren etwas vorschreiben zu wollen: «Wenn ein Mann 100 Prozent auswärts und die Frau 100 Prozent zu Hause arbeiten will, dann kann das stimmig sein – und andersrum genauso», sagt Kräutli. «Wichtig ist einzig, dass das Ganze verhandelt wurde und vor allem weiterhin verhandelbar bleibt.»
Was hat es mit meiner Sozialisation als Mann zu tun, wie ich mich in gewissen Situationen als Vater verhalte? Wie gehe ich mit Ängsten, Ungeduld oder Wut um?
Soziale Arbeit ist seine Zweitausbildung, doch Berater ist Kräutli schon ein Berufsleben lang. Jahrelang verkaufte er als ÖV-Kaufmann Reisen an SBB-Kunden. Im Hinblick auf seine Stelle als Väterberater hat er sich in genderreflektiertem Arbeiten mit Vätern weitergebildet. «Es ist bei der Elternberatung wichtig, das soziale Geschlecht mitzudenken», sagt er. «Was hat es mit meiner Sozialisation als Mann zu tun, wie ich mich in gewissen Situationen als Vater verhalte? Wie gehe ich mit Ängsten, Ungeduld oder Wut um?»
Für die Schweiz ist das Thema Väterberatung von Mann zu Mann praktisch noch Neuland. Das erste kantonale Angebot in Bern startete 2019, nur wenige Kantone und Städte haben seither nachgezogen. Kräutli findet: «Solche Angebote sollten so rasch wie möglich Vätern in allen Kantonen offenstehen.»
Seine Arbeit sei nicht nur Hilfe in der Not, sondern auch Prävention: «Involvierte Papis können Rollenvorbilder für die nächste Generation sein. Wenn die Kinder sehen, dass es nicht nur den Spass-Papi, sondern auch den Kümmer-Papi gibt, der auch sorgen, putzen und kochen kann, dann ist das eine wichtige Ressource fürs ganze Leben.» Irgendwann werde so auch unsere Gesellschaft verändert, sagt Kräutli, überlegt und schiebt nach: «Aber das braucht noch mal ein bisschen Zeit.»
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Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf impact.zhaw.ch veröffentlicht.