FOMO. Das Akronym der englischen Phrase «Fear of Missing Out» hat es, wie so viele eingängig klingenden Abkürzungen, via Urban Dictionary in unsern alltäglichen Sprachgebrauch geschafft. FOMO beschreibt das Gefühl, Angst davor zu haben, man könnte etwas verpassen. Dieses Gefühl gibt es aber nicht erst seitdem FOMO – mit oder ohne Hashtag versehen – durch die sozialen Netzwerke geistert.
Auch mir ist das Gefühl schon lange vorher schmerzlich bekannt geworden. Eine unbedachte Entscheidung meines siebenjährigen Ichs hat dazu geführt, dass ich auf einen Schlag ein Bewusstsein für das Andere, also für das, was ich in diesem Moment eben nicht tat, um lieber dem nachgehen zu können, was ich gerade tat, entwickelte. Deep Blue, unser blauer Planet, lief in den Kinos. Er war ein Kassenschlager. Wir wollten ihn uns als Familie anschauen gehen. Ich verbrachte einen turbulenten Nachmittag mit den Kindern aus der Nachbarschaft, und als der Zeitpunkt des Kinobesuchs näher rückte, verspürte ich keine Lust, das Austoben mit «Räuber und Poli» gegen einen Abend im muffigen Kino einzutauschen.
«Was, du bischen nöd go luege?», fragte mich tags darauf eine Nachbarin. «De het doch dir als TierfrĂĽndin so guet gfalle, da häsch öpis verpasst!». Mir war, als fiele mir ein Ziegelstein in den Magen. So hatte ich mich noch nie gefĂĽhlt. Als meine Mutter zuhause vom Film schwärmte – so etwas hätte sie noch nie im Kino gesehen, faszinierend! – gab es mir den Rest. Ich konnte nicht verstehen, was mit mir los war. Ich fĂĽhlte Reue. Ich bedauerte meine Entscheidung vom Vorabend zutiefst. Der abenteuerliche Spätsommerabend, das berauschende GefĂĽhl des Adrenalins in meinen Adern, wenn ich mit meiner Flinkheit auch den grossen Jungs entkommen konnte – alles erschien mir plötzlich in einem ganz anderen Licht. Ein beliebiger Abend, nichts Besonderes, austauschbar und wiederholbar. Nicht so aber der Kinoabend mit meiner Familie. Sie hatten zu viert den Film gesehen, waren davon tief beeindruckt, und ich war nicht dabei gewesen. Auch wenn ich den Film noch einmal allein schauen wĂĽrde, könnte ich nicht mehr rĂĽckgängig machen, dass ich nie Teil dieser Familienerinnerung werden wĂĽrde. Â
Die Angst, etwas verpassen zu können, und die damit einhergehende Entscheidungsunfähigkeit, scheint ein Phänomen zu sein, das gerade die Generation Y stark umtreibt. Der Generation, die mit dem Internet und in der Allgegenwart mobiler Kommunikation gross geworden ist. Es scheint ihr schwer zu fallen, nicht den FĂĽnfer und s’Weggli haben zu können. Dies wohl auch, da sowohl der FĂĽnfer als auch das Weggli allzeit auf dem Präsentierteller bereit liegen, wie etwa auf Tinder, wo die Schnittmenge aus Match A und Match B zusammen doch genau den Traumpartner verkörpern wĂĽrde. FrĂĽheren Generationen war es schlicht auch technisch nicht möglich gewesen, jederzeit auf dem Schirm zu haben, was einem gerade potenziell entgeht. Den Millennials stehen in der Schweiz alle Wege offen, sie sind gut ausgebildet und technikaffin, die Zukunft gehört ihnen. Doch wĂĽnscht sich wohl manch einer von ihnen Scheuklappen, die es ihm ermöglichten, seine Energie oder seine Interessen nur auf etwas hin zu konzentrieren, statt ständig auf den Nachbarn zu schielen und zu hinterfragen, ob man auch wirklich nichts verpasst. Vielleicht gibt es im benutzerdefinierten Umkreis auf Lovoo noch einen Levin beziehungsweise eine Jessica, mit der man’s noch schöner haben könnte. Â
Die FOMO kann in der heutigen Gesellschaft aber durchaus auch eine Stärke sein, denn:  Das Familienleben steht nicht mehr so unangetastet und zum Heiligtum stilisiert auf einem Podest wie frĂĽher. Es ist den gut ausgebildeten jungen Leuten wichtig, einen Job zu finden, der sie erfĂĽllt und der ihnen Spass macht. Es geht nicht mehr nur darum, Geld nach Hause zu bringen. Wäre ein Peter 30 Jahre später zur Welt gekommen, wäre er vielleicht nicht so happy mit einem Job gewesen, der ihm zwar passt, aber nichts beinhaltet, dass er mit Leidenschaft tut. Gut möglich, dass er sich aus der Angst heraus, einen besseren Job zu verpassen, noch einmal weitergebildet hätte. Die FOMO kann also auch als positiver Antrieb fungieren, der Leute dazu bringt, sich mit sich und ihrem Leben vertieft auseinanderzusetzen. Â
FOMO-Betroffene hinterfragen sich und gesellschaftliche Strukturen ständig. Sie stellen beim Versuch, zu ihrem FĂĽnfer und dem Weggli zu gelangen, Forderungen. So zum Beispiel diejenige nach einem Vaterschaftsurlaub. Werdende Väter und MĂĽtter sind nicht mehr dazu bereit, sich von staatlichen Vorgaben in ein traditionelles Rollenbild quetschen zu lassen. Väter möchten gleichberechtigte Elternteile sein, die ihre fĂĽnfzig Prozent zur Kinderbetreuung und Haushalt ohne Wenn und Aber leisten. Die valide Angst, ihre Partnerinnen im Stich zu lassen, und kein engagiertes Elternteil zu sein, lassen sie fĂĽr Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf einstehen. Â
FrĂĽher auf dem Dorf hatten es die Teenager vergleichsweise einfach. Alle 14 Tage fand eine Disco statt. Da ging man einfach hin. FOMO gab es vielleicht dahingehend, dass man Angst hatte, auf eine rostige Heugabel zu treten und wegen der daraus resultierenden Blutvergiftung nicht an dem Fez teilnehmen zu können und die nächsten beiden Wochen nicht ĂĽber die neuesten Eskapaden mitreden zu können. Die heutigen jungen Leute hingegen haben an einem Samstagabend mindestens fĂĽnf Veranstaltungen anstehen, bei deren Einladungen auf Facebook sie ĂĽberall die Besuchsoption «vielleicht» angewählt haben. Von 19:00 bis 21:00 Uhr an einer Geburtstagsparty vorbeischauen, dann weiter zur WG-Einweihung der Studi-Kollegin, aber nicht zu lange, weil sie im Kraftfeld den Gratisstempel nur bis 22:30 Uhr verteilen. Dann, wenn möglich, noch die Kollegin treffen, die zufällig in der Stadt ist, und hoffen, dass es mit den Ă–V-Verbindungen dazwischen hinhaut, denn schon wieder Taxi geht nun wirklich nicht. Â
So viel Planung kann einem schnell mal die Stimmung drĂĽcken, schliesslich will man im Ausgang eigentlich mal abschalten. Aber wenn es so imminent wichtig ist, das letzte Tram um 00:56 zu kriegen, setzt man lieber beim samstäglichen Biertrichtern aus, da man dabei auch schon mal die Zeit vergessen hatte. Und eigentlich gleich allgemein beim Biertrinken. Oder man trinkt einfach ein Bier zuhause. Auf dem Sofa. So hat man wenigstens die Garantie, abgesehen von der tröstenden Wärme der Kuscheldecke alles verpasst zu haben, was der potenziell feuchtfröhliche Abend zu bieten hatte und kann in Selbstmitleid versinken. So kann einem die Teilnahme an der Geburtstagsparty nicht noch im Nachhinein versaut werden, weil herauskommt, dass sich die Kumpels zeitgleich an einer ausufernden Einweihungsfete Freundschafts-Tattoos mit Haarnadeln und FĂĽllfederpatronen gestochen haben und man zehn Minuten zu spät da war, um auch noch eins abzukriegen. Â
Ich selbst plädiere dafĂĽr, Facebook nicht mehr als Kalendertool zu benĂĽtzen, und einfach mal die Schnauze zu halten, wenn man sich am Wochenende an Party X besonders witzig besoffen hat. Denn, ganz ehrlich: Wer es einem so unter die Nase reiben muss, der hat doch nur Angst, dass irgendwo noch etwas Erlebenswerteres stattgefunden hat. Und das ist doch wirklich unnötig – wieso sollte man sich das Erlebte im Nachhinein schlecht- oder kleinreden? Egal, ob es um Ausgang, Ausbildung, Beziehung oder Familie geht: Das Leben ist zu kurz fĂĽr Reue und Overthinking. Und obwohl ich wirklich kein Fan von Jugendsprach-Akronymen bin: YOLO vor FOMO! Ich schaue mir jetzt Deep Blue an.Â
Dieser Artikel ist als Erstpublikation im Brainstorm Online erschienen.