Aber beginnen wir 2500 Jahre früher. Mit der griechischen Antike kamen prähistorische Vorstellungen von demokratischem Zusammenleben auf und damit die Ideale, nach deren sich unsere westlichen Gesellschaftssysteme formten. Der freie Mensch ist rational und denkt losgelöst vom blinden Glauben an eine höhere Macht oder Autoritäten. Solidarität, Vernunft und kritisches Denken sind die Werte, die zu einem friedlichen Zusammenleben führen sollten, bei dem alle Menschen gerecht behandelt werden. Zeitsprung zurück ins 21. Jahrhundert. Die soziale Ungleichheit ist grösser als je zuvor, die Menschheit steht mit der Klimaerwärmung einer Gefahr gegenüber, die mittlerweile unüberwindbar scheint, und politische Spannungen sind dermassen zur Normalität geworden, dass wir über das Bevorstehen des 3. Weltkrieges gar Spässe reissen.
Wir schauen zu und quittieren die täglichen Ungerechtigkeiten höchstens mit einem müden Schulterzucken. Lange ist es her, seit die 68er-Bewegung für mehr Menschenrechte, Frieden und Chancengleichheit gekämpft hat – bis auf die wenigen unermüdlichen Seelen, die sich auf sozialen Plattformen über das Weltgeschehen erbosen, ist es mit dem Aktivismus nicht mehr weit her. Wir scheinen ganz glücklich zu sein mit den Zuständen, gehen brav und ohne mit der Wimper zu zucken fünf Tage die Woche zur ungeliebten Arbeit, um uns mit dem damit verdienten Geld die Illusion eines angenehmen Lebens zu kaufen. Es ist der von jeglicher Vernunft losgelöste Konsum, der zu dieser Gleichgültigkeit führt, und der stumpfe Glauben daran, dass uns das Stillen künstlicher Bedürfnisse glücklich und zufrieden macht. Das funktioniert gut, solange wir nicht die Opfer dieser Denkhaltung sind. Aber es gibt sie: Jene, die den Preis für unsere Konsumgesellschaft zahlen. Es ist der grössere Teil der Weltbevölkerung und die Umwelt. Und das sollte uns doch eigentlich wütend machen.
Das heutige Konsumverhalten scheint aber einen solch drastischen Einfluss auf unsere Wahrnehmung zu haben, dass unser Empathie-Vermögen abgenommen hat. Das hat zum Teil damit zu tun, dass wir jederzeit die Möglichkeit haben, uns durch das sofortige Stillen oberflächlicher Bedürfnisse von negativen Emotionen abzulenken. Vielmehr noch ist es aber der Kapitalismus, der die Kontrolle über unser Handeln und Denken übernommen hat: Man macht alles, um den persönlichen Gewinn zu maximieren – im Notfall auf Kosten anderer. Und das ist die grösste Gefahr, welcher unsere Sozialgesellschaft heute gegenübersteht. Denn diese basiert auf Solidarität; ohne sie funktioniert es nicht.
Der Kapitalismus aber ist nicht mit den Prinzipien des Humanismus vereinbar. Gier macht uns unsolidarisch und blinder Konsum unser Denken oberflächlich und indifferent. Aufgeklärte Menschen wären der Tod der Werbeindustrie. Denn das Letzte, was diese will, sind informierte Konsumenten. Werbung verbreitet keine Fakten, sie verbreitet ein Lebensgefühl, leere Versprechen, um ein Bedürfnis nach einem Produkt zu erzeugen, das wir gar nicht haben. Das ist mittlerweile so selbstverständlich und vor allem so akzeptiert geworden, dass wir die Anforderungen an Faktizität und Wahrheit auch in anderen Bereichen abgelegt haben. Die PR-Maschinerie in Wahlkämpfen jüngster Zeit funktioniert je länger desto ähnlicher. Teure Kampagnen, die Emotionen statt Fakten vermitteln. Die jüngsten politischen Entwicklungen zeigen: es funktioniert. Kant würde sich im Grabe umdrehen.
Wir müssen dringend wieder anfangen zu hinterfragen, zu rationalisieren, auf den eigenen Verstand zu vertrauen. Wir müssen ein Bewusstsein für Güter und ihren Wert entwickeln und den «Grossen und Mächtigen» auf die Finger schauen – nicht in Form einer Re-Renaissance, sondern mit einer neuen Art von Konsumverhalten. Wir brauchen einen zeitgemässen Humanismus, damit die Ideale der Aufklärung überleben.
Dieser Artikel erschien als Erstpublikation beim Brainstorm.