«Die Natur ist ein schöner Teil meines Sports»

Der Top-Orientierungsläufer Noah Zbinden hat soeben sein FH-Architekturstudium abgeschlossen. Wie er das nebst Spitzensport bewältigt hat, was seine Ziele sind und warum er während des Joggings keine Musik hört, erzählt er hier.

Etwas Unaufgeregtes, Bodenständiges umgibt die Sportart Orientierungslauf. Keine Hallen oder Stadien, Spielarena ist die freie Natur. Passend unprätentiös ist auch die Erscheinung von Noah Zbinden. Ein unscheinbar wirkender junger Mann mit kurz geschnittenem Bart. Seine Haare, um bei sportlichen Vergleichen zu bleiben, nicht so gestylt wie bei den meisten Fussballern. Die schlanke Figur eines Langstreckenläufers. Ein freundlicher, gutmütiger Blick. So erscheint er beim Treffpunkt an der Bushaltestelle vor dem Shoppingcenter in Spreitenbach.

Wasser statt Kaffee

Hier in Spreitenbach lebt der Baselbieter erst seit Kurzem. Er ist von Chur, wo er soeben sein Architekturstudium an der FH Graubünden abgeschlossen hat, hergezogen. Für angehende Architekten wie ihn ist der Raum Zürich attraktiv, ausserdem hat seine Freundin hier ihren Lebensmittelpunkt. Oben in einem Restaurant im beschaulichen Dorf bestellt sich Noah ein Wasser. Koffein nimmt er nur in Form von Shots während der Wettkämpfe zu sich. Rasch kommt die Rede auf die Aussenwelt, die Natur. «Sie ist unsere Infrastruktur», sagt Noah lächelnd. Ohne Natur gäbe es keinen Orientierungslauf (OL). «Obwohl es auch immer mehr Wettkämpfe in Städten gibt», schränkt er ein. Doch seine Spezialität ist technisch schwieriges Gelände im Wald. Täglich joggt er zu Trainingszwecken über Stock und Stein. Natur und frische Luft, ein tägliches Grundbedürfnis? «Ja schon», meint Noah. Ob beim Laufen, auf dem Velo oder im Winter beim Langlaufen – stets ist er im Freien. «Auch bei Regen oder Schnee. Es gibt keine Ausrede.»

«Wie in einer Märchenwelt»

Wie für «normale» Bürogummis hat für Noah Zbinden das Lauftraining auch eine Ausgleichsfunktion. Dabei kann er nachdenken. «Deshalb habe ich auch nie Musik im Ohr. Beim Laufen kommen mir oft Ideen, die mir vielleicht sonst nicht in den Sinn gekommen wären.» Dies kam ihm auch im Studium, etwa bei Projektarbeiten, zugute. Die Naturverbundenheit ist ein Teil von Noah. «Neulich regnete es leicht, der Boden war mit Bärlauch übersät und leuchtete in kräftigem Grün», schwärmt er. Laufend, im wörtlichen Sinne, lernt auch immer wieder neue Landschaften kennen, abseits der Touristenströme. Ob Portugal, Estland oder in Tschechien, wo er 2021 an der WM teilnehmen konnte und den sensationellen 16. Rang in der Mitteldistanz holte. Das dortige OL-Gelände ist gesäumt von charakteristischen Sandsteintürmen. «Als wir erstmals in dem Gebiet trainieren durften, kam ich mir vor wie in einer Märchenwelt», erzählt er. «In der Natur zu sein, ist ein sehr schöner Teil meines Sports.» Ins Schwärmen gerät der frische FH-Absolvent auch, wenn er erzählt, wie die FH Graubünden ihm die Vereinbarkeit von Studium und Spitzensport ermöglichte. Nach diesem Kriterium hatte er sich eine FH für sein Architekturstudium ausgesucht. Er besuchte mehrere Fachhochschulen in der Deutschschweiz, um abzuklären, welche am ehesten in Frage käme. «Über eine Werbung auf Spotify habe ich erst von der damaligen HTW Chur gehört.» Die Werbung auf der Website für die Vereinbarkeit von Sport und Studium machte ihn neugierig. Nach einer Führung war der Entscheid gefallen. In Chur konnte er in einem Teilzeitmodell studieren, damit genügend Zeit für Training und Wettkämpfe blieb. «Ausserdem konnte ich wenn nötig Prüfungen verschieben.» Als «Höhepunkt der Flexibilität» erlebte Noah die Präsentation des Semesterprojekts, das mit der letztjährigen WM zusammenfiel. «Ich hatte alles vorbereitet, mein Kollege hängte meine Pläne auf, und ich durfte mich dann direkt aus dem Wald in Tschechien zuschalten für die Präsentation.» Auch sonst fühlte er sich im Bündnerland wohl: «Ich hatte gutes Trainingsgelände, ausserdem bin ich gerne in den Bergen.» Im Winter war es nicht weit zum Langlaufen auf der Lenzerheide und sein WGPartner war ebenfalls ein OL-Läufer.

Unterstützung durch die FH Graubünden

Ein paar Tage vor dem Interview hat Noah nun die Bachelorarbeit für sein Architekturstudium eingereicht. Inzwischen hat er auch die Prüfungen hinter sich. Weil er zum Schluss nicht mehr oft in Chur sein musste, lebt er bereits seit einigen Monaten in Spreitenbach. Sein Budget ist nach wie vor studentisch und Wohnraum in Zürich bekanntlich teuer. Noah hat zwar ein paar Sponsoren, dazu zählt auch die FH Graubünden, die ihn mit einem Geldbetrag unterstützt, sicher noch bis zur WM 2023 in Flims-Laax. Und die meisten Spesen für internationale Wettkämpfe werden vom Verband gedeckt, der allerdings ebenfalls einen Pauschalbetrag einfordert. «Ohne die Unterstützung meiner Eltern ginge es aber kaum», sagt Noah. Neben der Doppelbelastung mit Studium und Training sowie Wettkämpfen wäre arbeiten zudem utopisch gewesen. Eine so grosse Unterstützung von zu Hause ist nicht selbstverständlich. Bei der Familie Zbinden aber Ehrensache, handelt es sich doch um eine OL-Familie. Vater und Bruder liefen ebenfalls Wettkämpfe, mussten aber beide wegen Verletzungen aufhören. Für den Bruder letztes Jahr war der Rücktritt vom Spitzensport als aufstrebender junger Athlet besonders schwierig. «Das gehört leider dazu, diese Unsicherheit», sagt Noah nüchtern. Daneben hat er noch zwei Schwestern, die andere Interessen verfolgen.

Unter die Top 15 von Europa

Seine nächsten Ziele sind klar: Zuerst visiert er an der EM dieses Jahr in Estland die Top 15 an. Danach folgt die Heim-WM 2023. Eine erneute Qualifikation wäre das Ziel, «und wenn ich das innerhalb des Schweizer Teams schaffe, liegt auch eine Topplatzierung drin.» Noah gibt zu, dass er auch mit dem Podest liebäugelt, «aber das liegt im Bereich der Träume». Geträumt darf aber werden, denn OL ist unberechenbar. Fehler können auch bei Favoriten viel Zeit kosten und ermöglichen immer wieder Aussenseitern eine Topplatzierung. «Das ist das Schöne am OL», findet Noah. Das betreffende Waldstück ist fünf Jahre vor dem Wettkampf gesperrt, damit für alle möglichst dieselben Bedingungen herrschen. Das Gelände Jahre im Voraus für Trainings zu sperren, ist üblich. Eine Kontrolle aber ist schwierig. «Man zählt in unserem Sport deshalb auf Fairplay», so Noah. In anderen Bündner Wäldern herrscht dafür bereits Hochbetrieb. Auch beruflich ist das Ziel vorderhand klar: Auf den Herbst hin sucht sich Noah eine Stelle in einem Architekturbüro. Diese soll kompatibel sein mit dem Spitzensport. Denn dieser steht selbstredend vorerst an erster Stelle. Wie von der FH wird auch vom Arbeitgeber Flexibilität gefragt sein.

 

Dieser Artikel erschien als Erstpublikation im Magazin INLINE in der August-Ausgabe 2022.

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