Auch wir buchten eine eintägige Privattour. Mit unserem Guide Roger fuhren wir den Hügel unseres Quartiers hoch und kamen bald vor einer alten Villa an. Unser Erstaunen wurde noch grösser, als uns Roger erzählte, dass all die Autos und das Haus heute den Geschwistern von Pablo Escobar gehören und wir sie in wenigen Minuten treffen würden. Bei Kriminellen wird in der Schweiz bei einer Verurteilung in der Regel das Vermögen vom Staat beschlagnahmt – in Kolumbien ist das scheinbar bis zu einem gewissen Punkt Verhandlungssache.
Nach wenigen Minuten tauchten die Geschwister tatsächlich auf und erzählten Anekdoten von damals. Etwa, wie bei einem Attentatsversuch eine Kugel quer durch den Salon flog und im Sofa – auf dem wir gerade sassen – einschlug. Später schlenderten wir durch das Haus, setzten uns in die ehemaligen Fluchtautos und schossen Erinnerungsfotos mit Roberto Escobar. Eine solch authentische Tour mit Gegenständen zum Anfassen hatten wir bis anhin noch nirgendwo auf der Welt erlebt. Nur mit persönlicher Widmung von Hand signierte Fahndungsbilder von Pablo Escobar kosteten zusätzlich.
Während diesem Tag lernten wir extrem viel ĂĽber Kolumbien und seine Geschichte. Roger erzählt, das Land habe sich nach Pablos Tod extrem verändert. «Ausser an der ecuadorianischen Grenze wird heute nicht mehr so viel Kokain wie frĂĽher angebaut. Wir sind heute mehr Konsum- als Produktionsland.» Erstaunlicherweise steht in der internationalen Presse jeweils genau das Gegenteil. Durch das verschwundene Drogenbusiness hat MedellĂn in den letzten zwei Jahrzehnten ein starkes Wachstum erlebt. Die Stadt gilt heute als die prosperierende Metropole SĂĽdamerikas. Mit ein Grund dafĂĽr: die vergleichsweise tiefe Korruptionsrate. «Die Menschen hier haben es satt, dass das Geld irgendwo in privaten Hosentaschen verschwindet. Deshalb liegt auf den Politikern auch ein gewisser Druck, diese Mauscheleien zu bekämpfen.»
Um den Wandel MedellĂns besser zu verstehen, fährt Roger mit uns am nächsten Tag in die Favela Comuna 13 am nördlichen Rand der Stadt. Hier hatte Pablo Escobar während seiner Regentschaft stets einen sicheren RĂĽckzugsort und in vielen Häusern hängt auch heute noch sein Konterfrei. Denn der Drogenbaron war zum einen äusserst brutal, hatte aber auch ein Herz fĂĽr die Ă„rmsten und liess von seinem verdienten Geld regelmässig Essen verteilen oder Häuser bauen. Nach seinem Tod teilten vier rivalisierende Gangs die Comuna untereinander auf. Wer sich als Gangmitglied oder Spitzel ĂĽber die imaginäre Grenzlinie wagte, wurde öffentlich zur Schau gestellt und getötet. Nicht umsonst galt die Comuna 13 frĂĽher als einer der gefährlichsten Stadtteile der Welt.
Das änderte sich 2002: Das kolumbianische Militär drang in einer mehrtägigen Operation mit schwerem Geschütz und 3’000 Mann in den von über 100’000 Menschen bewohnten Stadtteil ein und brachte ihn unter seine Kontrolle. Seither hat sich die Lage vor Ort gemäss Roger aber massiv beruhigt: Heute ist die Comuna 13 nicht nur ein sicherer Ort für die Einheimischen, sondern auch ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen. Ihm sei nicht bekannt, dass ein Tourist hier in den letzten Jahren beklaut worden wäre, erzählt Roger. Und wenn sich doch jemand meine Kamera schnappt und davonrennt? «Dann würde die Person sicher rasch von den anderen Bewohnern gestellt und eine Tracht Prügel bekommen!»
Vollgesaugt mit Impressionen fliege ich einige Tage später wieder via Bogota in die Schweiz zurück. Während der vierwöchigen Reise habe ich nicht nur ein wahnsinnig schönes Kolumbien mit traumhaften Stränden und Dschungeln kennengelernt, sondern auch viele interessante Einblicke in ein Land gewonnen, das sich langsam von seiner unruhigen Geschichte zu erholen scheint und dessen Menschen trotz allem ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft nicht verloren haben.
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im Brainstorm erschienen.