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Geschlechtsspezifische Unterschiede auch bei schwerkranken Menschen besser berücksichtigen

Menschen erkranken je nach Geschlecht unterschiedlich. Da die Medizin traditionell auf den Mann ausgerichtet ist, sind Frauen in der Versorgung benachteiligt. Die Gendermedizin nimmt sich dieser Herausforderung an – mit dem Ziel, geschlechtsspezifische Bedürfnisse besser zu berücksichtigen. Auch in der Palliative Care, der Begleitung unheilbar kranker Menschen, gewinnt diese noch junge Disziplin an Bedeutung. So zeigen Studien, dass bei Betroffenen am Lebensende je nach Geschlecht unterschiedliche Verhaltensweisen sowie Problemstellungen auftreten und dass Frauen oft andere Sorgen und Schmerzempfindungen haben als Männer. Um auf die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen zu können, ist auch eine Gleichstellung der Geschlechter bei den Fachkräften des Gesundheitswesens notwendig. Eine weitere Herkulesaufgabe, zumal die Pflegearbeit hauptsächlich von Frauen geleistet wird, während höhere Positionen und prestigeträchtige medizinische Bereiche meist männlich dominiert sind.

Autorin: Ursula Ammann, Mitarbeiterin Kommunikation Weiterbildung OST

Bislang hat sich die Medizin bei der Behandlung und Erforschung von Krankheiten hauptsächlich auf den männlichen Körper konzentriert. Doch dieselbe Krankheit kann bei einer Frau andere Symptome hervorrufen als bei einem Mann. Zudem reagiert der weibliche Körper oft anders auf Medikamente. Auch das Gesundheitsverhalten und die gesundheitlichen Risiken können je nach Geschlecht variieren.

Die vorherrschende männliche Perspektive führe dazu, dass Frauen in der Gesundheitsversorgung benachteiligt würden, schreibt der Schweizer Bundesrat in einem Postulatsbericht vom Mai dieses Jahres. Er hat deshalb mehrere Bundesstellen damit beauftragt, in der Forschung, Prävention und Ausbildung Massnahmen umzusetzen, damit die gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen besser berücksichtigt werden. Unter anderem soll auch die Gleichstellung der Geschlechter bei den Angestellten im Gesundheitswesen gefördert werden.  

Care gilt als Frauendomäne, Cure als Männerdomäne

Obwohl im Bereich der Medizin immer mehr Frauen tätig sind, zeigt sich: Je höher die Hierarchiestufe, desto höher der Männeranteil. Während bei Assistenzärztinnen und -ärzten 60 Prozent weiblich sind, beträgt der Frauenanteil auf Stufe der Chefärztinnen und -ärzte nur noch 18 Prozent. Wie der Bund in einem Grundlagenpapier festhält, besteht zudem eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung, die als «Cure versus Care» bezeichnet wird. «Die Pflege («Care») wird als Domäne der Frauen angesehen, während die Heilung («Cure») verstärkt den Männern zugeordnet wird, namentlich in medizinischen Bereichen mit hohem Prestige.» Auch die Palliative Care gelte eher als weibliches Fachgebiet, sagt Andrea Kobleder vom IPW Institut für Angewandte Pflegewissenschaft der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Sie leitet den MAS Palliative Care, ein Studienprogramm, in dem Fachpersonen verschiedener Disziplinen gemeinsam Konzepte für eine optimale, bedürfnisorientierte Behandlung, Pflege und Betreuung unheilbar kranker Menschen erarbeiten.

«Studien zufolge berichten Frauen in palliativen Situationen zum Beispiel über mehr Symptome wie Schmerzen, Müdigkeit und Übelkeit.»

Prof. Dr. Andrea Kobleder

IPW Institut für Angewandte Pflegewissenschaft an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, Studienleiterin MAS Palliative Care

Prof. Dr. Andrea Kobleder
Prof. Dr. Andrea Kobleder

«Kurative Fachgebiete stehen in der öffentlichen Wahrnehmung für den technologischen Fortschritt und neue – bislang als unmöglich geltende – Behandlungsmöglichkeiten, während Palliative Care als Fachgebiet angesehen wird, das sich auf die Lebensqualität, Kommunikation und die Unterstützung von Menschen in Krisen konzentriert», so die Expertin. «Überspitzt gesagt betonen die kurativen Bereiche eher männlich konnotierte Hard Skills wie chirurgische Techniken und den Umgang mit medizintechnischen Geräten, während Palliative Care mit weiblich konnotierten Fähigkeiten wie Empathie und Kommunikation assoziiert wird». Umso erstaunlicher sei es, dass leitende Ärztinnen oder Chefärztinnen auch in der Palliative Care untervertreten seien, sagt Andrea Kobleder.

Ursachen von Schmerzen je nach Person und Geschlecht unterschiedlich

Die Gleichstellung der Geschlechter im Gesundheitswesen verbessert erwiesenermassen die Gesundheitsversorgung. Denn nicht zuletzt werden durch vielfältige Perspektiven, Erfahrungen und Denkweisen in Praxis und Forschung auch die geschlechterspezifischen Unterschiede der Patientinnen und Patienten besser erkannt und berücksichtigt.

Andrea Kobleder begrüsst, dass sich auch die Palliative Care vermehrt mit dem Thema Gendermedizin auseinandersetzt und es laufend weitere nationale und internationale Studien dazu gibt. Gleichzeitig findet sie es aber wichtig, nicht in ein stereotypes Denken zu verfallen. Die Bedürfnisse der Betroffenen in palliativen Situationen nach biologischem und sozialem Geschlecht zu unterteilen, greife zu kurz. «Was Menschen am Lebensende empfinden und brauchen, ist höchst individuell – so wie wir Menschen sind.» Dennoch liefere die Forschung einige interessante Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede, die es zu berücksichtigen gelte. «Studien zufolge berichten Frauen in palliativen Situationen zum Beispiel über mehr Symptome wie Schmerzen, Müdigkeit und Übelkeit», sagt Andrea Kobleder. Was man aber auch wisse, sei, dass Frauen hinsichtlich ihrer Schmerzen scheinbar systematisch unterbehandelt würden. Dafür gebe es verschiedene Erklärungen. «Eine Vermutung ist, dass ein Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Auffassung besteht, dass Schmerzen bei Frauen von Übertreibung, Angst und emotionaler Belastung geprägt sind und dass die Schmerzsymptomatik ein «natürlicher» Prozess ist, der keiner Behandlung bedarf.»

«Schmerzen in palliativen Situationen sind selten nur physiologischer Natur, sondern haben meist auch psychosoziale und spirituelle Komponenten», erklärt Andrea Kobleder. So konnte auch ich Studien dargestellt werden, dass Frauen im Rahmen ihres Schmerzerlebens häufiger von Sorgen um Familienmitglieder und unerledigten (häusliche) Pflichten berichteten, während bei Männern Sorgen über finanzielle und rechtliche Angelegenheiten vorherrschend waren. «Die Ursache des Schmerzes kann je nach Person und auch Geschlecht verschieden sein – dies muss im Zuge einer professionellen Schmerzbehandlung berücksichtig werden», so die Studienleiterin des MAS Palliative Care. Dieses Studienprogramm vermittelt unter anderem Wissen und Kompetenzen, um die Schmerzen der Betroffenen zu lindern und ihre Lebensqualität spürbar zu verbessern.

Frauen erhalten am Lebensende weniger Intensivpflege als Männer

Andrea Kobleder verweist zudem auf Studien, die darauf hindeuten, dass bestimmte Attribute und Verhaltensweisen eher bei weiblichen oder männlichen Betroffenen vorkommen. Unter anderem zeigten Wong e. al. (2023) auf, dass Frauen eher an einer «Rea-Nein-Entscheidung» festhielten, also an ihrem Entschluss, bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand nicht reanimiert werden zu wollen. Im Vergleich zu Männern erhielten Frauen am Lebensende weniger Intensivpflege. «Frauen forderten zudem seltener informelle Pflege durch Familienmitglieder und akzeptierten es eher, nicht zuhause zu sterben, um die Familie nicht zu belasten», sagt Andrea Kobleder. «Männer erwarteten hingegen häufiger Pflege zu Hause und hielten an ihrer Entscheidungsautonomie fest. Bei Ratschlägen von weiblichen Gesundheitsfachpersonen zögerten Männer eher, diese anzunehmen.»

Auch zur Lebenssituation der Betroffenen liefert die Studie von Wong et al. (2023) spannende Ergebnisse. «Es stellte sich heraus, dass Frauen am Lebensende seltener verheiratet, häufiger verwitwet und öfter alleinlebend waren», so Andrea Kobleder. Aufgrund der höheren Lebenserwartung seien sie zudem eher von chronischen Krankheiten und Schmerzen betroffen. «Oft bleiben Frauen allein und mit weniger Ressourcen zurück, nachdem sie viel Zeit, Energie und Ressourcen für die Pflege ihrer Ehepartner aufgebracht haben». Im Vergleich zu Männern lebten Frauen zudem häufiger in Armut aufgrund lebenslanger Ungleichheiten hinsichtlich Entlöhnung und Arbeitsbedingungen.

Körperliche Pflegeaufgaben werden eher an weibliche Angehörige delegiert

Auch bei den pflegenden Angehörigen gibt es geschlechterspezifische Unterschiede, wie die Studie von Wong et al. (2023) verdeutlicht. «So zeigte sich, dass weibliche pflegende Angehörige mehr mentale und physische Belastungen erlebten als männliche pflegende Angehörige», sagt Andrea Kobleder. Bei den pflegenden Angehörigen handle es sich überwiegend um Frauen. «Dies hängt auch mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Frauen zusammen – Care-Arbeit ist nach wie vor weiblich konnotiert.» Gemäss Studie fühlten sich Frauen denn auch eher verpflichtet, diese Rolle zu übernehmen, beziehungsweise litten unter Schuld- oder Versagensgefühlen, wenn sie dazu nicht in der Lage waren.

Ein ebenso spannender Aspekt sei die Rolle der Gesundheitsfachpersonen in der Palliative Care, erwähnt Andrea Kobleder. «In Studien konnte dargestellt werden, dass diese beispielsweise körperliche Pflegeaufgaben eher an weibliche Angehörige delegieren und die männlichen Angehörigen eher mit Fragen rund um die Entscheidungsfindung betrauen.» Zudem zeige sich: Übernehme ein Mann die Rolle des pflegenden Angehörigen, so werde das in der Gesellschaft als «heldenhaft» wahrgenommen. «Bei Frauen wird diese Rolle als Selbstverständlichkeit angesehen.»

MAS Palliative Care

Im multiprofessionell ausgerichteten MAS Palliative Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule erarbeiten Gesundheitsfachpersonen Versorgungsansätze für die Pflege und Betreuung von Menschen mit schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen, die sich in der letzten Lebensphase befinden. Sie erlangen die Kompetenz, unterschiedliche Konzepte und Handlungsansätze für ihren Bereich kritisch auszuwählen, zu integrieren und zu evaluieren. Dies mit dem vorrangigen Ziel, die Versorgung von Menschen in palliativen Situationen im interprofessionellen Kontext zu optimieren und zu einer verbesserten Lebensqualität der Betroffenen und deren Angehörigen beizutragen. Die Gendermedizin wird im MAS Palliative Care derzeit im Rahmen sogenannter Videolectures aufgegriffen. Es ist geplant, das Thema noch umfassender zu integrieren.

Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf weiterwissen.ch veröffentlicht.

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