Kind und Karriere zusammen? Einiges wird unternommen, damit die Beantwortung dieser Frage einer Frau nicht schwerer fällt als einem Mann. Dennoch muss sich eine Frau in verantwortungsvoller beruflicher Position diesbezüglich heute immer noch oft erklären oder gar verteidigen. Das folgende Interview bildet keine Ausnahme. Auch hier werden Fragen gestellt, die irgendwann vielleicht hinfällig sind.
Fakt ist: Die gesellschaftspolitischen Gründe wiegen in der Ungleichbehandlung von Mann und Frau in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Karriere noch immer schwerer als die praktischen Hürden wie Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Doch auch die gesellschaftlich eher konservative Schweiz bewegt sich. Irene Christen, CEO des auf Neurorehabilitation spezialisierten Unternehmens Cereneo, ist ein gutes Beispiel dafür.
Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs ist sie im neunten Monat schwanger. Sie ist sich ihrer privilegierten Lage bewusst. Ihr Kind wird in ein wirtschaftlich und sozial stabiles Umfeld hineingeboren. Auf der anderen Seite birgt ihre berufliche Spitzenposition selbstredend Herausforderungen. Wie sie den neuen Lebensabschnitt plant, wie sie die künftige Doppelbelastung organisiert und welche Rolle ihr Umfeld spielt, erzählt sie hier.
Irene Christen: Vielen Dank, die Situation derzeit zwingt mich buchstäblich zur Entschleunigung. Das tut aber auch gut. Ich habe also Zeit für das Gespräch.
Eine Familie zu haben, war immer ein grosser Wunsch. Daher stand ich nie vor der Entscheidung: Karriere oder Familie. Gleichzeitig war mir auch klar, dass vieles stimmen muss. Meine konkreten Gedanken vor der Schwangerschaft in diesem Zusammenhang waren: Wie möchten mein Partner und ich unser Familienleben gestalten? Was sind unsere Vorstellungen? Ziehen wir diesbezüglich gemeinsam an einem Strang? Wenn man sich als Paar mit allen Fragen und Eventualitäten auseinandersetzt, kann man viele Bedenken früh aus dem Weg schaffen. Man muss als Team funktionieren. Auch Ängste im Vorfeld haben sich durch diese aktive Auseinandersetzung mit der Zeit in Luft aufgelöst.
Es war der gemeinsame Wunsch von meinem Partner und mir, dass wir beide Zeit in die Kinderbetreuung investieren, aber dennoch weiter hochprozentig arbeiten möchten. Entsprechend kam ein Kürzertreten nicht gross infrage. Wir sind überzeugt, dass ein Kind in einer Kita oder bei den Grosseltern ausserhalb der Kernfamilie weitere wertvolle Erfahrungen sammeln kann. Eine gute Organisation ist schliesslich entscheidend, egal ob man nun Vollzeitmami ist oder daneben 120 Prozent arbeitet. Zum Glück habe ich einen Arbeitgeber, der dies unterstützt und wir sind in einer privilegierten Situation, sodass ich das Gefühl habe, beides verbinden zu können.
Wir sind überzeugt, dass ein Kind in einer Kita oder bei den Grosseltern ausserhalb der Kernfamilie weitere wertvolle Erfahrungen sammeln kann.
Irene Christen
Auch hier sind wir in einer sehr privilegierten Situation. Mein Partner erhält vom Arbeitgeber zehn Wochen Vaterschaftsurlaub. Er kann die Zeit auch frei aufteilen. So können wir die Verantwortung in dieser Zeit teilen und beide können in die Elternrolle hineinwachsen. Wir gehen Hand in Hand, beide werden zu Hause Aufgaben übernehmen.
Grundsätzlich ist das sehr schade. Aber wir sind im Prozess, damit sich dies nun ändert. Genauso wie sich die Frauen in den 70er- und 80er-Jahren rechtfertigen mussten, nebst dem Ehemann überhaupt einer Arbeit ausserhalb des Haushalts nachzugehen, wird sich auch Karriere und Familie für die Frau als normal erweisen über die Zeit. Wir brauchen wohl noch etwas Geduld, gute Rollenbeispiele und sollten uns auch an anderen Ländern orientieren, die da schon einen Schritt weiter sind.
Kritische Äusserungen habe ich nicht gehört. Was das Umfeld denkt, aber nicht sagt, kann ich natürlich nicht beurteilen. Ich kann mich an die Rückmeldung «ambitioniert» erinnern.
Die Leute freuten sich überwiegend für mich. Dass die organisatorischen Konsequenzen nicht nur Freude auslösten, muss ich auch akzeptieren. Schliesslich bringt das vorübergehend personelle Änderungen, macht die Situation teils etwas komplizierter. Dafür habe ich Verständnis.
Ich kann mich an die Rückmeldung ‹ambitioniert› erinnern.
Irene Christen
Sehr positiv. Ich habe auch keinen Erwartungsdruck mir gegenüber gespürt, wie ich zum Beispiel jetzt meine Abwesenheit planen werde. Es kamen keine Wünsche oder Ansprüche. Sie haben es mir somit leicht gemacht.
Ja, ich habe kommuniziert, dass ich die 14 Wochen beziehen möchte, die mir zustehen. Dazu noch etwas Ferienzeit. Die ersten fünf Wochen danach werde ich zudem nur 60 Prozent arbeiten. Das wurde akzeptiert und sehr gut aufgenommen.
Ich habe ein tolles Team, das während meiner Abwesenheit übernehmen wird. Meine Aufgaben teilen sich vor allem der CFO und COO auf, dazu wird Ihnen eine Assistenz zur Seite gestellt. Bisher war es mein Job zu schauen, dass wir ein gut funktionierendes Team sind. In diesem Sinne haben wir auch Stellvertretungsfunktionen aufgebaut. Zudem haben wir flache Hierarchien. Das alles hat die Übergabe nun vereinfacht. Zum Glück, da ich nun früher ausgefallen bin als geplant. Nun werden wir sehen, ob ich einen guten Job gemacht habe.
(Lacht) Gute Frage. Ich denke, deren Meinungen über ihre Zusatzaufgaben werden sich jeden Tag ändern. Doch die Situation ist für sie sicher auch eine Chance im Sinne einer Horizonterweiterung, zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsrat. Beiden ist bewusst, dass nun mehr Arbeit auf dem Tisch liegt. Aber wir haben das gemeinsam so geplant.
Ich habe angeboten, dass man mich immer erreichen kann. Aber wie ich unsere Kultur kenne, erwarte ich nicht, dass jemand dies gross in Anspruch nehmen wird. Und ich werde meinen Stellvertretenden sicher auch nicht hineinreden. Das ist nur fair. Schliesslich ist es auch für mich förderlich, einfach abzuschalten und mich rauszunehmen. Für keinen Betrieb ist es gesund, von Einzelpersonen abhängig zu sein. Und wenn man nachhaltig in der Arbeitswelt bleiben will, ist eine richtige Auszeit auch gesund.
Längerfristig ist der Plan, dass wir beide unter der Woche je einen Tag Kinderbetreuung übernehmen. Den Rest werden wir über die Grosseltern und die Kita abdecken.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zeitweise zu viel wird, ist sicher da. Das nicht zu erwarten, wäre naiv. Aber das kann auch vorkommen, wenn man zum Beispiel eine Aus- oder Weiterbildung neben dem Job macht. Dennoch bin ich aus zwei Gründen sehr optimistisch: Erstens ziehen mein Partner und ich am selben Strang, das hilft, einen Weg zu finden, auch wenn es einmal intensiver wird. Und zweitens habe ich ein sehr gutes soziales Umfeld mit meiner Familie in der Nähe, was ebenfalls sehr wertvoll ist. So bin ich sicher, dass wir Strategien finden, auch strengere Zeiten zu bewältigen.
Neu erscheinen im Monatsrhythmus Beiträge auf der Newsplattform watson, die aus unserer fhnews-Redaktion (betrieben von FH SCHWEIZ) stammen. Darin geht es um Trends in der praktischen Aus- und Weiterbildung, sowie Arbeit und Karriere – jeweils anhand von Persönlichkeiten mit FH-Bezug. Du findest die Beiträge im Blog «Top Job» auf watson. Ergänzend dazu gibt es hier Tipps und Wissen zu diesen Themen.