Den Begriff «Traumberuf» findet Eugenie Nicoud etwas schwierig. «Ich wollte immer einen Job haben, der mir grösstmögliche Zufriedenheit gibt und sinnstiftend ist. Wenn er mich erfüllt und ich einen guten Zweck erreiche, ja, dann ist es wohl auch ein Traumjob.» In dieser glücklichen Lage schätzt sich die 31-Jährige als COO und Mitbegründerin des Startups Sedimentum. Die im Jahr 2019 gegründete AG mit Sitz in Zug entwickelt Sturzmelder und kann damit das Leben vieler Menschen vereinfachen oder im Ernstfall sogar retten. Sie steht kurz vor dem Markteintritt.
Wie kommt man auf Sturzmelder? Die Idee hatte CEO Sandro Cilurzo. Er arbeitete einst in der Psychiatrie und sah dort, wie schwierig es ist, den Patienten einen 24-Stunden-Schutz zu gewähren. Zum einen, weil der personelle Aufwand zu gross wäre. Zum anderen aus Datenschutzgründen «und zu guter Letzt, weil es aktuell keine technologischen Hilfsmittel gibt, die zufriedenstellend funktionieren». Es werden also sehr viele Stürze (zu) spät bemerkt. Weltweit gibt es geschätzt jährlich rund 37 Millionen Stürze, die zu einer medizinischen Nachbehandlung führen, erklärt Nicoud. Der grösste Teil davon betreffe ältere Menschen, wovon mehr als die Hälfte nicht selbstständig Hilfe holen könne. «Das Problem daran ist, dass nur Wenige überhaupt ein Notfallmeldesystem besitzen und bei einem Sturzereignis dieses häufig nicht auf sich tragen oder gar nicht mehr betätigen können, da sie bewusstlos sind.» Daneben gebe es noch viele weitere schutzbedürftige Menschen, etwa Babys oder Epileptiker.
Sedimentum entwickelt völlig neuartige Sturzmelder, die nicht aktiv betätigt werden müssen, sondern eigenständig Stürze melden. Mittels Sensoren und künstlicher Intelligenz werden Bewegungsaktivitäten erfasst, Notfälle erkannt und an die Software übermittelt. Die Sturzmelder können wie zum Beispiel Rauchmelder an der Zimmerdecke oder einer anderen Stelle in den zu überwachenden Räumen angebracht werden. Sie eignen sich für Kliniken, Altersheime und ähnliche Einrichtungen, aber auch für den Privatgebrauch.
Studiert hat Eugenie Nicoud Business Administration an der Hochschule Luzern. Neben dem Vollzeit-Bachelor hat sie immer gearbeitet, den Master danach berufsbegleitend absolviert. «Ja klar es war streng», sagt sie und lacht. «aber ich würde es jeder und jedem empfehlen, Arbeit mit Studium zu paaren.» Studium und Job würden sich gegenseitig befruchten, «und Problemstellungen, auch banalste wie etwa eine E-Mail adressatengerecht zu schreiben, lernt man so bereits frühzeitig richtig.» Und durch die Sicht aus der Praxis ergebe vieles mehr Sinn, wenn man es dann im Studium lerne.
Zum Gelernten gehört etwa, wie man Businesskonzepte schreibt oder die Marketingaktivitäten organisiert. Dies kommt Nicoud auch heute noch zugute. «Das Startup-Gründen an sich aber kann man nirgends lernen», ist sie überzeugt. «Eine Ausbildung dazu ist nicht möglich, denn jedes Startup hat seine eigenen Herausforderungen.» Sie liest viele Bücher, hört Podcasts und unterhält sich mit anderen Gründern. Softskills seien ein entscheidender Faktor für das erfolgreiche Gelingen. «Man muss einfach das richtige Mindset mitbringen, die Risikofreude – es gehen ja neun von zehn Startups wieder ein – sowie die Motivation, etwas Eigenes zu erschaffen.»
Wenn man ihre Familie ansieht, sticht Eugenie Nicoud auch dort heraus. Sie stammt aus einer Musikerfamilie, die Generationen zurückreicht: Ihr Vater ist Geiger mit Wurzeln in der Westschweiz, ihre Mutter, gebürtige Russin, ist Opernsängerin. Auch ihre Schwester ist Sängerin. Eugenie lacht, während sie das erzählt. Sie machte früher zwar auch Musik, hat beruflich aber ihren eigenen Weg gewählt. Und dieser verlief schnell einmal steil aufwärts. Wo immer sie arbeitete, durfte sie rasch viel Verantwortung übernehmen. «Ich erhielt stets das Vertrauen, etwas aufzubauen», sagt sie. Im ersten Job war es ein Online-Shop, später eine ganze Marketing-Abteilung. «So gesehen ist es jetzt beim Startup kein riesiger Unterschied.»
Und doch hat sie niemand auf die Erfahrungen vorbereitet, die mit der Unternehmungsgründung auf sie warteten. «Drei grosse Learnings hatte ich», erzählt sie freimütig. «Erstens bereitet dich niemand auf die emotionale Achterbahnfahrt vor, die du durchmachst.» Am einen Tag könne alles wie am Schnürchen laufen, am nächsten wiederum gar nichts. «Es fühlt sich an wie der Kursverlauf einer Kryptowährung», sagt sie und lacht wieder.
Zweiter Lehrblätz: Das Team ist alles. Man müsse Leute haben, auf die man sich verlassen und denen man blind vertrauen könne. «Alles steht und fällt mit dem Team. Das war mir vorher vielleicht nicht so bewusst.» Umso stolzer ist Eugenie Nicoud, dass sie, wie sie sagt, in einem absoluten Spitzenteam arbeiten darf.
Und drittens: Die materielle Unabhängigkeit. «Wir mussten uns anfangs klar festlegen, wie viel wir privat zum Leben benötigen.» Was, wenn jemand die Miete nicht bezahlen kann, oder wie lange kommt man ohne Lohn aus? Dies waren Fragen, die im Team besprochen wurden, als es darum ging, die Löhne festzulegen, denn diese sollten bei den Gründern so tief wie möglich gehalten werden. Eine wichtige Frage, die nicht nur dem Unternehmen zugutekommt, sondern auch dem Teamgeist.
Nun steht das Sedimentum-Team vor dem wegweisenden Markteintritt. Noch kann Nicoud deshalb nichts Konkretes über die Abnehmer verraten. «Wir befinden uns in der Pilotphase mit diversen Kunden in den Bereichen Psychiatrie, Spitex und Altersheime.» Die Sturzmelder können derzeit getestet und bereits bestellt werden. Für den Herbst ist ein zusätzliches Softwareprodukt als zertifiziertes Medizinprodukt mit dem Namen «SAFE-move» geplant, welches zur Sturzprävention eingesetzt wird. Und auch der darauffolgende Schritt ist bereits auf dem Gleis: Eine medizinische Software, welche die Vitalfunktionen misst, zur Behandlungsoptimierung eingesetzt wird und im Verlauf des nächsten Jahres auf den Markt kommt.
Der Traum vom eigenen Startup, Selbstbestimmung, einer sinnstiftender Tätigkeit - dies alles kann Eugenie Nicoud bei Sedimentum vereinen. Ist dies das Rezept für den Traumjob? Oder anders gefragt: Wieviel davon ist einfach harte Arbeit? «Wer Erfolg haben will, egal worin, muss hart arbeiten», sagt sie. «Bei mir ist es so, dass es keine Rolle spielt, welchen Wochentag wir haben – ich gehe gerne arbeiten, sei es an einem Montag, einem Freitag oder auch an einem Sonntag.» Sie kann es jeweils kaum erwarten, weiterzumachen, den nächsten Schritt zu nehmen. «Das Ziel ist immer vor Augen.»
Viel Zeit für Hobbys bleibt da im Moment nicht. «Sedimentum ist mein Job und Hobby», sagt sie und lacht. Ihr Leben drehe sich 24 Stunden und sieben Tage darum, «ich schaue auch Dokus und Serien über Startups». Daneben geht sie gerne mal gut essen – und wenn es die Lage wieder zulässt – leidenschaftlich gerne auf Reisen.
Und doch schafft es Eugenie Nicoud dann auch noch, sich um eine Herzensangelegenheit zu kümmern: sie engagiert sich mit Leidenschaft für die Gleichstellung. «In manchen Sparten ist es gar ein Lebensziel», wie sie sagt. Sie möche gerne die Weichen für kommende Generationen stellen, gerade in MINT-Bereichen und Führungspositionen. «Weltweit ist diese Lücke leider noch lange nicht geschlossen», sagt sie und hat auchZahlen parat: «Gemäss WEF dauert es noch 256 Jahre, bis die Geschlechterparität erreicht ist.» Dagegen möchte sie mit allen Mitteln etwas unternehmen.
Sie engagierte sich zum einen beim Verein GirlsinTechSwitzerland und hat neu den Verein HerTechClub Switzerland mitbegründet. «Wir wollten Events durchführen, doch Corona hat uns etwas ausgebremst», deshalb geht es nun etwas später los. Geplant sind Infoanlässe, unter anderem mit Referaten und Gesprächsrunden. «Das machen wir lieber live als online.» Auch lokale Anlässe zur Frauenförderung unterstützt Nicoud (siehe Box).
Damit verbunden ist auch der Lebenstraum von Eugenie Nicoud: «Ich möchte später einmal etwas zurückgeben können, sei das aus Sedimentum – sollten wir Erfolg haben – oder sonst aus einer Tätigkeit.» Ihr schwebt vor, eine Stiftung zu gründen mit dem Zweck, die Bildung von Mädchen und jungen Frauen im Bereich Informatik zu fördern. «Ich war einmal in Kambodscha. Dort hat mich stark berührt, wie schwer der Zugang für junge Frauen zu Bildung ist, insbesondere auch im technischen Bereich.» Ziel könnten aber auch andere Länder sein. «Es ist überall ein riesiges Thema.»
Dieser Artikel erschien als Erstpublikation im Magazin INLINE vom Mai 2021.