Cristian Cardoso ist so, wie man sich einen Sozialarbeiter vorstellt: ein freundlicher junger Mann mit interessiertem Blick und gewinnendem Lächeln. Man findet sich rasch in der Situation, dass man ihm mehr über sich erzählt als umgekehrt. Dies hat wohl auch mit seinem Beruf zu tun. Er arbeitet als betrieblicher Sozialberater. Beruf als Berufung sozusagen, eine Floskel mit Wahrheitsgehalt. Man ist rasch per Du. Es entspinnt sich ein angeregtes Gespräch. Beim Thema «Beziehungen» kann Cristian angesichts seiner vielfältigen Tätigkeiten aus dem Vollen schöpfen. Er hat bereits während seines FH-Bachelors in Sozialer Arbeit an der FHNW den Praxisteil im Amt für Beistandschaften und Erwachsenenschutz Basel-Stadt und bei der Jugendanwaltschaft Basel-Landschaft absolviert. Heute arbeitet er Teilzeit bei der schweizweit tätigen Firma Proitera. Beziehungen zu Klienten verschiedenster Art sind sein Alltag. Dazu absolviert er den Master in Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Uni Fribourg. Nebenbei unterrichtet er an der Fachmittelschule (FMS) in Muttenz, die er einst besuchte. Punktuell ist er zudem als Lehrbeauftragter an der FHNW tätig. Trotz alldem hat Cristian ein Zeitfenster für dieses Gespräch gefunden.
Eine gute Beziehung dient als Grundlage seiner Arbeit: «Studien besagen, dass die Qualität der zwischenmenschlichen professionellen Beziehung der wesentliche Wirkfaktor einer Beratung ist», präzisiert er. Am meisten bringt eine Beratung oder auch allgemein die Soziale Arbeit, wenn zwischen Sozialberater und Klient ein klarer Rahmen herrscht. Die Basis ist natürlich Vertrauen: «Sie ist die Grundlage einer Beziehung.» Ohne Vertrauen öffnet sich jemand nicht, die relevanten Themen kommen nicht auf den Tisch. «Und so kommt keine Zusammenarbeit zustande.» Es sind logische Folgerungen, die Cristian als professionelle Haltung in seine Arbeit mitnimmt. Als Mensch sind sie für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Ein typischer Fall aus seinem Alltag? Cristian Cardoso lächelt. «Das gibt es eben nicht.» Deshalb gibt er einen allgemeineren Einblick: In den meisten Fällen melden sich Mitarbeitende eines Unternehmens bei Proitera, weil sie Hilfe suchen und sich damit einer Fachperson anvertrauen möchten. «Meine Aufgabe ist es meist, eine Auslegeordnung zu machen, um herauszufinden, was das Kernanliegen oder Problem ist.» Oft färbt ein Problem bei der Arbeit auch auf das Privatleben ab und umgekehrt. Sind es finanzielle Sorgen, die jemanden belasten? Oder kommt der Druck von der Arbeit? Das eine zieht oft das Nächste mit sich. Wo hat alles angefangen? Bald ist dies nicht mehr so klar. «Die Menschen sehen häufig den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Meine Aufgabe ist es, einen Durchblick zu verschaffen und danach mit möglichst einfachen Schritten möglichst viel Wirkung zu erzielen.»
Das Wort «helfen» mag Cristian im Zusammenhang mit seiner Arbeit nicht. «Es bedeutet, jemandem etwas abzunehmen.» Nicht alle haben von zu Hause oder von sich aus denselben Werkzeugkasten für das Leben mitbekommen. «Wir möchten aber Menschen befähigen, Herausforderungen selbst zu bewältigen, damit wir überflüssig werden.» Dazu zitiert er die berühmten Worte des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: «Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.»
Cristian war schon immer hilfsbereit und interessierte sich für Menschen. Wohl die beiden Haupttriebfedern, weshalb er in diesem Beruf gelandet ist. «Da meine beiden Eltern Vollzeit arbeiteten, war ich als Kind in der Tagesstruktur und wurde dort mitsozialisiert.» Seine Eltern waren aus Argentinien eingewandert. Seine Mutter, die Wurzeln in der Schweiz hat, fand eine Anstellung als Kindergärtnerin.
In der Tagesstruktur bemerkte man bald Cristians aufgeweckten Geist. Er kam gern, und als er etwas grösser war, half er mit, den Kleinen zum Beispiel die Zähne zu putzen oder die Schuhe anzuziehen. «So wurde mir bald klar, dass ich etwas mit Menschen machen möchte.» Psychologe würde er einmal werden, dachte er. Um es genauer zu wissen, ging er ins Berufsinformationszentrum. Dort hiess es dann: Sozialarbeiter. «Ich kannte diesen Beruf nicht, er hat mich aber sofort angesprochen.» Der Weg nach der Sekundarschule war nun vorgezeichnet: FMS, Fachmaturität und Soziale Arbeit an der FH. Alles in seinem damaligen Wohnort Muttenz.
Ein Praxisteil gehört beim Studium in Sozialer Arbeit immer dazu. Für Cristian kam nur ein berufsbegleitendes Studium in Frage: «Ich wollte die Lebenswirklichkeit der Menschen gleichzeitig mitbekommen und Gelerntes direkt anwenden können.» Wichtig war ihm auch die Unabhängigkeit von den Eltern. Studium und Arbeit waren und sind bis heute bei ihm eng verwoben.
Vieles im Gespräch dreht sich indirekt oder direkt um Haltung und Werte. Da spielt es keine Rolle, ob im privaten oder beruflichen Kontext. «Wichtig ist mir, mit Respekt, Offenheit und Neugier auf eine Person zuzugehen. » Dann spricht wieder der Profi: «Bei mir ist stets im Bewusstsein, dass mein Gegenüber Grenzen hat.» Und diese Grenzen sind sehr individuell – einige suchen Nähe, andere verlangen viel Distanz. Dazu sind wir stark geprägt durch unsere im Leben gemachten Erfahrungen. «Was habe ich erlebt und was hat das mit mir gemacht? Mein Gegenüber hat vielleicht ganz andere Erfahrungen gemacht oder gleiche anders erlebt.»
Zwar sind gewisse Parameter in einer professionellen Beziehung klarer abgesteckt, eine Beratung läuft werteund wissenschaftsbasiert, «sie ist situationsangemessen und nicht willkürlich». Dennoch bleibt stets für ihn als Berater der Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. «Dieser kann sehr interessant sein, aber auch anspruchsvoll.»
Natürlich gelingt die Abgrenzung auch einem Profi nicht immer gleich gut. «Wenn ich zum Beispiel selber gestresst bin, kann es schwieriger sein. Und speziell sind Fälle, in denen man persönlich getriggert wird.» Auch das hat Cristian schon erlebt. Einmal begleitete er eine Person, die eine sehr ähnliche biografische und gesundheitliche Geschichte hatte wie sein Vater. Die Person verhielt sich auch in gewissen Situationen gleich. Dies machte ihm zu schaffen. «Ich bin überzeugt, dass ich die nötige professionelle Distanz langfristig hätte wahren können, wäre es nötig gewesen. Es hätte aber viel Energie gekostet und wäre mit potenziellem Frust verbunden gewesen.» Daher entschied er sich, den Fall einem Arbeitskollegen, der Kapazität hatte, anzuvertrauen.
Natürlich kann eine Beratung auch aus diversen Gründen scheitern, sowohl an Klienten wie auch an Beratenden. «Auch ich hatte schon das Gefühl, dass ich nicht genügend unterstützen konnte, um das Problem erkennen zu können.» Stichwort zwischenmenschliche Beziehung. Diese ist nicht immer beeinflussbar.
Selbstredend, dass ein Sozialberater auch auf seine eigene Psychohygiene achten muss. Als Seelenfutter liest Cristian gerne, geht wandern, trifft sich mit Freunden. «Und der Austausch im Team tut sehr gut.» Gerade wenn auch mal eine Beratung seine Nerven belastet.
«Letztlich muss ich einer Person gegenüber authentisch wirken.» Man könne noch so viel Wissen mitbringen. Fehlt die Authentizität, fehlt der Person ein fassbares Gegenüber. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist daher elementar im Studium in Sozialer Arbeit. Dies wurde gleich zu Beginn deutlich vermittelt. Es ginge nicht, das komplette Leben ins Reine zu bringen. Man muss sich nicht für perfekt halten, sondern wissen: «Das bin ich und so bin ich.» Damit kennt man auch seine eigenen Grenzen und weiss, wo eigene Stärken oder Schwächen eher zum Tragen kommen werden. Cristian hat eine klare Vorstellung.: «Die Beziehung zu sich soll positiv und optimistisch sein. Man darf sich ruhig selber mögen, auch nachgiebig sein, was nicht ausschliesst, dass man sich in gewissen Situationen auch fordert.»
Der Balanceakt zwischen Nähe und Distanz kann sehr interessant sein, aber auch sehr anspruchsvoll.
CRISTIAN CARDOSO
Dies tut er derzeit mit seinem Masterstudium an der Uni, wo er neben der Arbeit grosse Massen an Stoff bewältigen muss. Wie bereits in der Passerelle, die er absolvieren musste, um als FH-Absolvent zugelassen zu werden. Eine Hürde, für die er wenig Verständnis hat. «Meine Noten sind nun an der Uni besser als an der FH», sagt er lächelnd. Dennoch hat er den Weg bewusst gewählt und würde ihn wieder gehen. Er wolle einen anderen Hochschulbetrieb sehen und möchte sich den theoretischen Rucksack füllen, auf dem seine tägliche Arbeit basiert. Auch ein späterer Doktortitel ist für ihn eine Option. Dennoch: «Das Angewandte bleibt mir sehr wichtig.» Und darauf möchte er sich auch vorerst konzentrieren.
gus