Autorin: Nora Lüthi, Mitarbeiterin Kommunikation Weiterbildung OST
Prof. Gabriella Schmid: Kinder und Jugendliche sind besonders vulnerabel, da sie sich noch in der Entwicklung befinden. Sie verfügen nicht über die gleichen Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten wie Erwachsene, um mit belastenden Erfahrungen wie Krieg, Flucht und Verfolgung umzugehen. Zudem sind sie häufig von verschiedenen Formen von Gewalt betroffen – im Herkunftsland, auf der Flucht und auch im Aufnahmeland. Es ist schwierig, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Wie ein Mensch auf ein traumatisches Ereignis reagiert und welche Folgen daraus entstehen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Man muss aber davon ausgehen, dass die Kinder und Jugendlichen stark belastet sind und diese Erfahrungen Spuren hinterlassen. Häufig wird auch von «Narben auf der Seele» gesprochen. Aber nicht alle Kinder und Jugendlichen sind traumatisiert.
Je früher und je häufiger ein Mensch traumatisiert wird, desto schwerwiegender sind die Folgen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass traumatische Erlebnisse gerade in der Kindheit Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns haben können. Mit neurologischen Verfahren konnte nachgewiesen werden, dass sich bestimmte Hirnregionen durch die Traumatisierung nicht so entwickeln konnten, wie es normalerweise der Fall wäre. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche in Kriegen oder auf der Flucht oft nicht nur einmal, sondern mehrfach traumatisiert werden. Lernbehinderungen, mangelnde Impulskontrolle, Angstzustände und Depressionen können unter anderem die Folgen davon sein.
Seit 2001 arbeitet Prof. Gabriella Schmid an der OST – Ostschweizer Fachhochschule (damals noch FHS) als Dozentin für Soziale Arbeit. In ihrer Ausbildung zur Sozialpädagogin wurde über das Thema «Trauma» nicht gesprochen. Deshalb machte sie es sich zur Aufgabe, es in verschiedenen Modulen an der OST zu platzieren. In Weiterbildungen hat sie sich intensiv mit Trauma auseinandergesetzt und als theoretische Grundlage Soziologie an der Universität Zürich studiert. Sie war über 20 Jahre in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit tätig, unter anderem in der Beratungsstelle Frauennottelefon in Winterthur. An der OST leitet sie ausserdem zusammen mit Prof. Dr. Stephan Dettmers den CAS Traumapädagogik.
Es kommt auf die Schutz-, Risiko- und Ereignisfaktoren an. Schutzfaktoren können die Folgen eines traumatischen Ereignisses mildern. Das kann eine fürsorgliche und liebevolle Familie sein, die alles versucht, um das Kind zu beschützen. Auch wenn Kinder zum Beispiel besonders intelligent oder resilient sind, können die Folgen eines Traumas abgemildert werden.
Risikofaktoren hingegen tragen zur Traumatisierung bei. Dazu gehören Vorbelastungen, wie wenn zum Beispiel ein Kind bereits einen Elternteil im Krieg verloren oder Gewalterfahrungen in der Familie gemacht hat. Sind die Kinder und Jugendlichen allein auf der Flucht oder in einem neuen Land, also unbegleitet, ist dies ein zusätzlicher Risikofaktor. Mit Ereignisfaktoren ist zum Beispiel gemeint, welches Ausmass die Gewalt hatte, wie häufig sie erlebt wurde, ob es auch zu physischen Verletzungen gekommen ist etc.
Je heftiger ein Ereignis, je grösser die Risikofaktoren und je geringer die Schutzfaktoren sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Betroffenen tatsächlich ein Trauma mit Langzeitfolgen entwickeln.
Die Folgen können bis zu einem gewissen Grad abgefedert werden, wenn die geflüchteten Kinder und Jugendlichen im Aufnahme- oder Gastland gute Bedingungen vorfinden. Wenn sie zum Beispiel gut aufgenommen und ausreichend betreut werden, soziale Kontakte knüpfen können und vielleicht sogar eine Therapie oder eine Ausbildung machen können. Das kann eine grosse Chance sein, die Erfahrungen sozusagen zu korrigieren und die Auswirkungen abzumildern. Es spielt eine bedeutende Rolle, was nach den traumatischen Erlebnissen passiert und ob die Kinder und Jugendlichen das Trauma in ihre Biografie integrieren können.
Wenn Kinder und Jugendliche genügend Ressourcen bekommen, um mit dem Trauma umzugehen, ist die Chance gross, dass sie irgendwann lernen, damit zu leben. Das heisst, es so zu verarbeiten, dass es nicht ihr ganzes Leben negativ beeinflusst und belastet. Eine Narbe auf der Seele bleibt vielleicht zurück, aber sie muss nicht immer schmerzen.
Viele Folgeerscheinungen der Traumata könnten gemindert werden, wenn mehr Ressourcen für Therapien und Betreuung zur Verfügung stünden.
Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen brauchen einen traumapädagogischen Ansatz, aber die Ressourcen im Schweizer Flüchtlings- und Asylwesen sind sehr knapp. Zudem besteht meist eine grosse Unsicherheit, ob die die Betroffenen überhaupt in der Schweiz bleiben können. Dies führt zu einem erhöhten Risiko, dass insbesondere junge Männer «auffällig» werden und möglicherweise in Kriminalität, Fanatismus oder Suizidalität abrutschen. Viele Folgeerscheinungen der Traumata könnten gemindert werden, wenn mehr Ressourcen für Therapien und Betreuung zur Verfügung stünden. Nicht alle Folgen können verhindert werden, aber viele könnten abgemildert werden.
Wenn jemand frisch traumatisiert ist, braucht es zunächst eine Krisenintervention zur Stabilisierung. Fachleute der Sozialen Arbeit können diesen Kindern und Jugendlichen traumasensibel begegnen, also eine gewisse Sicherheit und Stabilität aufbauen. Besonders wenn die Geflüchteten Gewalt durch andere Personen erfahren haben, ist der Vertrauensaufbau enorm wichtig, damit sie wieder lernen, anderen Menschen und dem Leben überhaupt zu trauen. Oft arbeiten die Fachpersonen mit den Kindern und Jugendlichen über Jahre hinweg im pädagogischen Alltag oder in einer speziellen Traumatherapie an diesen Themen.
Das ist sehr individuell. Nicht alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen brauchen eine Traumatherapie und manche können oder wollen sich nicht darauf einlassen. Denn eine Traumatherapie ist ein schwieriger Prozess: Die Traumatisierten müssen sich mit dem Trauma auseinandersetzen. Das setzt eine gewisse Stabilität voraus. Sonst kann es zu einer Retraumatisierung kommen. Gerade bei Jugendlichen sollte deshalb kein Druck ausgeübt werden. Sie wollen oft einfach ein normales Leben führen und sich nicht ständig mit dem Trauma auseinandersetzen. Irgendwann in ihrem Leben suchen sie dann vielleicht doch eine Therapeutin oder einen Therapeuten auf.
Mit Kindern arbeitet man in der Therapie ganz anders als mit Erwachsenen, viel spielerischer. Was mich immer wieder überrascht, ist, dass Kinder eine enorme Selbstheilungskraft haben. Es gibt Studien, die zeigen, dass viele Kinder mit einer Traumatisierung sich mit der Zeit selbst davon erholen können, wenn sie ausser Gefahr und in Sicherheit sind.
Fachpersonen sollten psychisch stabil sein und keine eigenen unverarbeiteten Traumata haben. Selbstfürsorge ist sehr wichtig. In der Regel ist es dafür gut, sich nicht permanent mit belastenden Geschichten auseinanderzusetzen, sondern in einer guten Balance zu sein. Für mich persönlich war es hilfreich, 60 Prozent in einer Beratungsstelle zu arbeiten und 40 Prozent zu studieren. So konnte ich mich abgrenzen, mich erholen und von den Situationen und Geschichten Abstand gewinnen. Wichtig sind auch gute Arbeitsbedingungen, genügend Erholungszeit, Weiterbildungen und Supervisionen. Bei den knappen Ressourcen im Flüchtlingsbereich sind diese Bedingungen leider oft nicht gegeben und die Fachpersonen laufen Gefahr, selbst traumatisiert zu werden – also eine Sekundärtraumatisierung zu erleben.
Fachpersonen im Bereich psychosozialer Unterstützungen sind vermehrt mit Menschen konfrontiert, die unter Traumata und deren Folgestörungen leiden. Der CAS Traumapädagogik vermittelt die Fähigkeit, den damit verbundenen Herausforderungen adäquat und kompetent zu begegnen und dabei das eigene psychische und physische Wohlbefinden nicht aus den Augen zu verlieren.
Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf weiterwissen.ch veröffentlicht.