Schwallweise kommen Menschenmengen aus der Richtung des Lichtsignals und eilen durch den dicken Vorhang schwer herabfallender Regentropfen. Die Füsse dribbeln ungeschickt um die Pfützen, die an diesem nasskalten Herbsttag fast den ganzen Boden bedecken. Normalerweise bin auch ich Teil dieser Menschenmenge. Heute aber beobachte ich das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel: von einem feuchten Treppenabsatz eines öffentlichen Gebäudes. Die Menschen hasten vorbei, die Augen zusammengekniffen, den Kopf starr geradeaus, den Blick abgewandt. Die geografische Distanz zu den Passanten ist nur minimal, die emotionale Distanz aber scheint mir riesig. Es gibt mir das Gefühl, nicht zur Gesellschaft zu gehören.
Ein älterer Mann teilt schon die ganze Zeit den unbequemen Ort mit mir. Er hat graues Haar, Bart und eine eingesackte Körperhaltung, geprägt vom Leben am Rande der Gesellschaft. Zwischen Zeige- und Mittelfinger qualmt eine Zigarette. Sie ist wohl das Einzige, was ihn zurzeit ein bisschen wärmen kann.
Wir sitzen beide unter einem kurzen Dachvorsprung, der den Regen kaum aufzuhalten mag. Der Mann hat im Vergleich zu mir keine Aussicht auf ein Ende dieses Ausharrens. Für ihn ist es Alltag, seit sieben Jahren. Damals hat er seinen Job verloren, dann seine Wohnung aufgeben müssen. Mehr erzählen mag er davon nicht. Jeden Tag ist er gezwungen, die Passanten nach Kleingeld für eine warme Mahlzeit in der Gassenküche St. Gallen zu fragen.
Meine Gedanken gehen zurück zum Gespräch, das ich in der «Anlaufstelle für Menschen mit Suchtproblemen und psychischen Beeinträchtigungen» (DAS) Winterthur mit den zwei Herren, Mosi und Rene, geführt habe. Mosi erzählt, oft bei Kirchen Unterschlupf gefunden und eine warme Mahlzeit gekriegt zu haben. Wenn diese Möglichkeit nicht bestand, musste auch er manchmal betteln. Das sei ihm aber jeweils sehr unangenehm gewesen, deshalb habe er lieber gestohlen. Das sei unpersönlicher.
Der Obdachlose neben mir fürchtet den Winter. Er traut sich kaum, in öffentliche Gebäude wie Bahnhofshallen oder Einkaufszentren zu gehen, um Schutz vor der Kälte zu suchen. Diese Angst lehrte ihn seine Erfahrung, beschimpft und vertrieben zu werden. In den Wintermonaten suchen viele, die sonst auf der Strasse leben, in den warmen Hallen des Flughafens Schutz vor der Kälte. Dort werden sie toleriert. «Nur wenn man nicht danach aussieht», relativiert mein Sitznachbar. Er sieht tatsächlich etwas mitgenommen aus: Seine ledrigen Hände, die dunklen Schatten unter den kleinen Augen, der ungepflegte Bart, sein abgewetzter Rucksack mit abblätternder Farbe und der kleine Messingtopf, der an einer Schnur daran baumelt.
Mosi und Rene kommen mir wieder in den Sinn. Sie waren sich ihrer Erscheinung bewusst und achteten darauf, nicht wie klischeehafte «Junkies» auszusehen. Rene zum Beispiel ist regelmässig am Bahnhof duschen gegangen und durfte seine Kleidung von einer barmherzigen Frau waschen lassen. Auch zum Gespräch mit mir erscheinen die beiden Herren sehr gepflegt. Beide tragen eine Lederjacke und einen Hut. Insbesondere Mosi kam es zugute, dass er nicht verwahrlostum die Häuser zog. Als er in Italien als Obdachloser der Küste entlanggegangen war, wurde er in einem kleinen Dorf von einer Familie aufgenommen. Sie stellte ihn allen Dorfbewohnern vor, die ihn daraufhin alle unterstützen. Er arbeitete dort in einer Bar, die dank Deutscher Matrosen hervorragend lief, und steckte das Geld der Familie zu, die ihn bei sich wohnen liess. Bei dieser Familie fühlte er sich zu Hause und das kleine Dorf wurde in dieser Zeit eine Heimat für ihn.
Wo sich hingegen der alte Mann neben mir zu Hause fühlt, kann ich nicht einmal erahnen. Aber er ist oft hier anzutreffen, wo ich heute mit ihm sitze. Zwei Bedürftige, die in der Notschlafstelle der Heilsarmee in Winterthur die Nacht verbringen können und anonym bleiben wollen, nennen je einen für sie wichtigen Faktor, der sie sich zu Hause fühlen lässt: «Wenn man nicht klingeln muss, bevor man die Wohnung betritt» und «wenn keiner nervt und man einfach gemütlich für sich sein kann».
Ein junger Mann, noch keine zwanzig Jahre alt, kommt auf uns zu und grüsst den Obdachlosen, als sei er ein alter Freund.Sie würden einander nicht gut kennen, erklären sie mir. Aber der Junge grüsse den Einsamen immer, wenn er ihn auf der Strasse sehe, ganz anders als der Rest der Menschenmenge. Er bietet ihm Zigaretten an, aber der alte Mann winkt ab: «Nein, danke, lieber hätte ich Münz, um nachher in der Gassenküche zu essen.» Der Teenager zuckt mit den Schultern, kramt ein paar Münzen hervor, gibt sie ihm und fragt, ob er trotzdem noch ein paar Zigaretten wolle. Der Alte zögert, als ob es ihm nicht recht wäre, auch noch dieses Geschenk anzunehmen, nimmt die Zigaretten dann aber doch an.
Diese Szene führt meine Gedanken zurück ins DAS: Mit selbstzufriedener Stimme erzählt Mosi davon, dass er mit Jung und Alt, Schweizern und Ausländern, Reichen und Armen gute Kontakte habe. Rene ergänzt später, dass Obdachlose «wohl allgemein sehr soziale Menschen seien». Im DAS werde jeder gut in die Gruppe aufgenommen, ganz gleich welches Alter, welches Geschlecht oder welche Vorgeschichte die Person habe. Diesen Eindruck hatte ich im Foyer der Anlaufstelle auch: Jeder redet mit jedem und die Verhältnisse zwischen Sozialarbeitern und Besuchern sind locker und respektvoll.
Immer noch im strömenden Regen sitzend, fragt mein Sitznachbar eine Frau mittleren Alters nach einem Fünfliber. Sie hätte «keine Zeit» meint sie und geht weiter, ohne eine Sekunde gezögert oder ihn auch nur angeschaut zu haben. «Was ist die dümmste Ausrede, kein Geld geben zu können, mit der du in deiner Zeit als Obdachloser abgewiesen wurdest?», will ich wissen. Für die Antwort muss er nur kurz überlegen: «Sorry, ich habe kein Bargeld. Nur eine Kreditkarte.» Sein Blick ist abgewandt, seine Antworten aufs Nötigste beschränkt.
Ganz anders erlebe ich Mosi und Rene: Beide reden fliessend, unterbrechen einander zwischendurch und holen zu umfänglichen Schilderungen aus. Mosi zeigt auch immer wieder seinen Humor mit lustigen, manchmal satirischen Sprüchen und lacht aus vollem Halse darüber. Man könnte dabei vergessen, was für schwierige Zeiten er hinter sich hat. Viele Freunde, die er aus der Zeit der offenen Drogenszene kannte, starben etwa im gleichen Alter. Es habe Jahre gegeben, in denen dreissig seiner Freunde ihr Leben verloren. Mittlerweile seien es noch etwa fünfzehn pro Jahr. «Rene und ich sind schon beinahe Ausnahmen. Dass wir noch leben, nachdem wir uns mit Drogen so kaputt gemacht haben, ist ein Wunder. Das zeigt, was ein Mensch alles aushalten kann.» Das kann Rene wieder nur bestätigen: «Ich war zeitweise nur noch 50 Kilo schwer, das war bei meiner Körpergrösse sehr gefährlich. Ich schlief manchmal unter der Brücke – auch im Winter – aber die Kälte spürte ich eigentlich gar nicht. Die Drogen dämpften den Schmerz.»
Der Blick, der im Leeren hängenbleibt, die langsamen Bewegungen, die er macht, die Mundwinkel, die sich nie nach oben zu verziehen scheinen: Die sieben Jahre auf der Strasse haben wohl am Obdachlosen genagt. Viele harte Erfahrungen und viel Unausgesprochenes scheinen hinter seinem Blick zu stecken. Und so wird es wohl auch bleiben. Ich akzeptiere, dass er nicht mit einer fremden Person über sein Schicksal sprechen möchte und erlöse mich von meinem feuchtkalten Platz.
Natürlich lässt mich diese Begegnung nicht so schnell los, genauso wenig wie jene mit Mosi und Rene. Was muss geschehen, damit man im Sozialstaat Schweiz auf der Strasse landet? Walter von Arburg, Leiter Kommunikation der Sozialwerke Pfarrer Sieber (SWS) mit dem dazugehörigen «Pfuusbus» für Obdachlose, erklärt es so: «Es ist die Perspektivlosigkeit nach einer Lebenskrise, die Menschen entweder aufs Gleis oder auf die Strasse bringt. Wer keine Ansprüche mehr an sich selber oder die Gesellschaft hat, gibt auf.» Für Rene steht fest: «Ohne die Drogen wäre ich wahrscheinlich nie obdachlos geworden. Und früher war auch noch die Hemmschwelle noch grösser, aufs Sozialamt zu gehen. Der Stolz liess das nicht zu.» Bei Mosi standen nicht die Drogen am Anfang der Obdachlosigkeit: «Ich bin schon als Kind alle drei bis vier Jahre von zu Hause abgehauen. Je weiter weg ich war, umso besser ging es mir.»
Beide konnten der Obdachlosigkeit den Rücken kehren und haben eine eigene Wohnung. Rene lebt von der Invalidenversicherung (IV), macht aber Freiwilligenarbeit: Er pflegt die Tiere, die zu einem Altersheim gehören. «Wer die Menschen kennt, liebt die Tiere.» Er teilt auch seine Wohnung mit einem Vierbeiner. «Meine Katze ist kein Haustier, meine Katze ist Mitbewohnerin. Ich liebe sie.»
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im Brainstorm-Magazin erschienen.