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«Angehörige sind häufig emotional gefangen»

Durch die Überalterung der Gesellschaft erkranken immer mehr Menschen an Demenz. Meist übernehmen Angehörige die Betreuung – oft bis hin zur völligen Erschöpfung. Unterstützung und Entlastung bieten spezialisierte Tageszentren für Menschen mit Demenz. Doch viele Angehörige zögern, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Anita Bittner leitet seit sechs Jahren ein Tageszentrum. In ihrer Masterarbeit hat die Absolventin des MAS Dementia Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule untersucht, warum Betroffene und ihre pflegenden Angehörigen sich für oder gegen ein Tageszentrum entscheiden und welche Auswirkungen der Besuch einer solchen Einrichtung auf die Beteiligten hat. Im Interview spricht sie über die Macht von Schuldgefühlen und darüber, wie sie Hemmschwellen abbauen will.

 

80 Prozent der Menschen mit Demenz werden zuhause vom privaten Umfeld betreut. Wie belastend ist das für die Angehörigen?

Anita Bittner: Die Demenz ist eine schwere Erkrankung, die das Leben aller auf den Kopf stellt. Dessen ist man sich in unserer Gesellschaft oft nicht bewusst. Denn es existiert die weit verbreitete Vorstellung, die Betroffenen seien einfach ein bisschen vergesslich. Doch Demenz hat viele weitere Gesichter: je nach Krankheitsverlauf äussert sie sich auch in körperlichem Abbau, Orientierungsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen. So kommt es vor, dass Menschen mit Demenz ein selbstgefährdendes oder aggressives Verhalten entwickeln und die pflegenden Angehörigen beschimpfen oder sogar beissen und schlagen. Viele haben keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr. Sie stehen also beispielsweise nachts auf, gehen unruhig umher oder räumen Schränke aus. Angehörige sind zum Teil rund um die Uhr im Einsatz und kommen kaum dazu, sich zu erholen. Besonders belastend ist auch der Beziehungsabbau zwischen den Erkrankten und ihren Angehörigen. Zum Beispiel muss eine Frau plötzlich alle Entscheidungen für ihren Mann treffen und sich um die Finanzen kümmern, was er vorher gemacht hat. Oder ein Sohn leidet darunter, dass ihn seine eigene Mutter nicht mehr erkennt.

 

Es gibt überall in der Schweiz spezialisierte Tageszentren, die Menschen mit Demenz einen bis mehrere Tage pro Woche betreuen und Angehörige dadurch entlasten. Wie Sie in Ihrer Masterarbeit festhalten, werden diese nur selten in Anspruch genommen. Warum?

Tageszentren sind noch zu wenig etabliert und den Angehörigen ist möglicherweise gar nicht bekannt, dass solche Angebote bestehen. Jene, die davon wissen, sind häufig emotional gefangen, weil sie ihren Liebsten nicht das Gefühl geben wollen, sie «abzuschieben». Denn Menschen mit Demenz können aufgrund ihrer Erkrankung kognitiv nicht nachvollziehen, dass ihre pflegenden Angehörigen überlastet sind und Unterstützung benötigen. Es kommt zu Aussagen wie «du willst mich doch nur loswerden» oder «du hast mich nicht lieb». Das löst bei Angehörigen starke Schuldgefühle aus. Ich stelle auch im Alltag immer wieder fest, dass es für Angehörige ein grosser Schritt ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft tun sie dies erst, wenn sie selbst am Rande ihrer Kräfte angelangt sind.

Menschen mit Demenz können aufgrund ihrer Erkrankung kognitiv nicht nachvollziehen, dass ihre pflegenden Angehörigen überlastet sind und Unterstützung benötigen. Es kommt zu Aussagen wie <du willst mich doch nur loswerden> oder <du hast mich nicht lieb>. Das löst bei Angehörigen starke Schuldgefühle aus.

Anita Bittner
Absolventin MAS Dementia Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule

Wie ist es für die Menschen mit Demenz, in ein Tageszentrum zu gehen?

Der Eintritt in ein Tageszentrum kann schon sehr herausfordernd sein. Menschen mit Demenz haben meist Mühe damit, die gewohnte Umgebung für einen fremden Ort zu verlassen. Sie können die Situation nicht einordnen. Deshalb zeigen viele anfangs ihre Abneigung, was die Schuldgefühle bei den Angehörigen verstärkt. Nach meiner Erfahrung braucht es in der Regel eine Eingewöhnungszeit von fünf oder sechs Besuchen bis sich die Person daran gewöhnt. Natürlich gibt es auch Unterschiede: die einen starten ohne Probleme, andere brauchen etwas länger. Grundsätzlich wirkt sich der Besuch eines Tageszentrums trotz Herausforderungen positiv auf die Betroffenen aus. Zu dieser Erkenntnis hat auch meine Masterarbeit geführt.

 

Wovon profitieren Menschen mit Demenz beim Besuch von Tageszentren besonders?

Tageszentren bieten neben einer ganzheitlichen pflegerischen Betreuung therapeutische Aktivitäten im Bereich Bewegung und Koordination an. Auch Gedächtnistraining und kreatives Gestalten gehören vielerorts zum Programm. Die Teilnehmenden werden zum gesundheitsförderlichen Verhalten unter ihresgleichen animiert. Ich kann mich erinnern, dass eine Angehörige einmal ganz erstaunt war, ihre Mutter, die sich zuhause offenbar kaum bewegt hat, in der Gruppe mitturnen zu sehen. Die soziale Komponente spielt denn auch eine wichtige Rolle. Die Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen, statt alleine zuhause zu sitzen. Insgesamt gibt es viele Belege dafür, dass Tageszentren das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen fördern und dass sich auch die familiären Beziehungen verbessern. Häufig ist die Situation zuhause so angespannt, dass etwas Abstand guttut.

 

Inwiefern werden die Angehörigen durch Tageszentren entlastet?

Einerseits erhalten sie dadurch Freiräume, um beispielsweise den Haushalt zu machen oder sich einfach zu erholen. Andererseits werden sie emotional unterstützt, denn Tageszentren stehen auch bei schwierigen Situationen zuhause beratend zur Seite. Durch diese Entlastung und Unterstützung fühlen sich Angehörige verstanden und können Kraft tanken. Das kommt auch den Menschen mit Demenz wieder zugute.

 

Sie haben im Rahmen Ihrer Masterarbeit mehr als ein Dutzend spezifische Studien analysiert, die Aufschluss darüber geben, weshalb sich Betroffene und ihre Angehörigen für oder gegen ein Tageszentrum entscheiden. Gab es etwas, das sie besonders überrascht hat?

Die Untersuchung hat unter anderem ergeben, dass Tageszentren mit stationären Pflegeeinrichtungen in Verbindung gebracht werden, was Unsicherheit und Angst auslöst. Das hat mich überrascht, denn Tageszentren verfolgen gerade das Ziel, dass die Betroffenen länger zuhause bleiben können, indem ihre pflegenden Angehörigen gezielt entlastet werden. Hier wäre es wichtig, der Unwissenheit entgegenzuwirken und eine gute Beratung anzubieten.

 

Was würden Sie pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz gerne mitgeben?

Es ist überaus beeindruckend und nicht selbstverständlich, was pflegende Angehörige leisten.  Viele sehen es als Pflicht, bis zur völligen Erschöpfung für ihre Liebsten da zu sein und geben ungerne preis, dass sie Hilfe brauchen. Es ist aber kein Versagen, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Mein Rat ist, nicht damit zu warten, bis es nicht mehr anders geht. Oft bringt es Vorteile, sich frühzeitig Unterstützung zu holen. Der Eintritt in ein Tageszentrum gelingt in einem früheren Stadium der Demenz beispielsweise oftmals besser. Zum einen, weil man da die Erkrankten viel eher ins Boot holen kann. Zum anderen, weil bei den pflegenden Angehörigen noch die notwendigen Energiereserven vorhanden sind.  

 

Wie können Sie die Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit für Ihre Berufspraxis nutzen?

Durch die Masterarbeit konnte ich mein Wissen im Bereich der Angehörigen vertiefen. Das hilft mir, Ihnen in der Praxis mit Verständnis zu begegnen und Initiativen zu ergreifen, die ihren Bedürfnissen gerecht werden. Schon vor meiner Masterarbeit habe ich in unserem Tageszentrum einen «Einblickstag» ins Leben gerufen, an dem Betroffene und ihre pflegenden Angehörigen unverbindlich vorbeischauen dürfen. Neu haben wir auch die Möglichkeit einer stundenweisen Betreuung verankert. Dadurch können Angehörige in Ruhe einkaufen gehen, ihr Hobby ausüben oder ihr Netzwerk pflegen. Die Erkenntnisse aus meiner Masterarbeit haben mich bestärkt, diese Bemühungen fortzusetzen und damit auch die Hemmschwellen gegenüber Tageszentren abzubauen.  

MAS Dementia Care

Pflegefachleute benötigen mehr denn je Kompetenzen im Umgang mit an Demenz erkrankten Personen. Dazu gehört die Beschäftigung mit der Lebenswelt der Patientinnen und Patienten ebenso wie das Wissen rund um Schmerztherapien und Palliative Care. Das Studienprogramm (MAS) Dementia Care vermittelt fundierte pflegewissenschaftliche Erkenntnisse, methodische Kompetenzen und berufspraktische Qualifikationen. Diese befähigen zum fachübergreifenden Handeln in Tätigkeitsfeldern der direkten und indirekten sowie demenzphasenübergreifenden Pflege- und Betreuungsgestaltung. Dank erworbener Zusatzkompetenzen sind die Absolventinnen und Absolventen in der Lage, die fachliche Führung im Pflege- und Betreuungsprozess von Personen mit Demenz zu übernehmen. Eng damit verbunden ist das übergeordnete Bildungsziel, die Lebensqualität von Personen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen wahrzunehmen und zu verbessern. 

Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf weiterwissen.ch veröffentlicht.

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