Ursprünglich ein Quereinsteiger, hat Anjan Sartory (51) eine Laufbahn in Berufsfeuerwehren, verwandten Bereichen sowie in verschiedenen Polizeikorps durchlaufen. Sein erstes Studium absolvierte er als Elektroingenieur an der damaligen FHS St. Gallen (heute OST) und bildete sich an derselben FH mit drei CAS und schliesslich einem EMBA weiter. Zur Stadtpolizei Winterthur stiess er vor gut einem Jahr, nachdem er zuvor Leiter Sicherheit und 2. Stellvertretender Kommandant bei der Stadtpolizei St. Gallen war. Der Ostschweizer ist bekannt dafür, dass er für eine moderne Führungskultur steht und Frauen im Polizeiberuf fördert.
Anjan Sartory: Ich liebe es, Menschen zu führen, in unterschiedlichen Funktionen, insbesondere bei der Polizei. Mein Job ist sinnstiftend, denn wir sind ein wichtiger Bestandteil der Sicherheit für die Menschen. Ich habe ein tolles Team um mich, mit dem es Spass macht zusammenzuarbeiten. Und nicht zuletzt ist meine Arbeit abwechslungsreich.
Ich bin in einer Feuerwehrfamilie gross geworden. Mein Vater war Feuerwehrkommandant und Leiter Sicherheit in Wil. Ich konnte manchmal auch mit zu Einsätzen. So war für mich früh klar, dass auch ich einmal zur Feuerwehr oder Polizei gehen werde. Erst war ich bei der Berufsfeuerwehr. Dann wurde eine Stelle bei der Polizei frei, ich bewarb mich und stiess so dazu.
Ja, der Bereich hat mich immer schon fasziniert.
Ich spüre diesen Druck in Form von Erwartungshaltung, ob aus der Bevölkerung oder der Politik. Und wenn jemand mit etwas unzufrieden ist, dann landet dies rasch bei mir. Aber auch wenn in der Öffentlichkeit, wie heute oft, ein Einsatz von jemandem gefilmt wird, müssen wir uns häufig erklären oder rechtfertigen.
Einerseits stehen sie oft unter Druck, rasch richtige Entscheidungen zu treffen. Und wie bereits erwähnt wird stets das Telefon gezückt und mitgefilmt, wenn etwas in der Öffentlichkeit passiert. Das macht die Arbeit nicht leichter. Auch bemerken wir, dass der Respekt vor Polizistinnen und Polizisten zurückgeht.
Bei Grosseinsätzen wie etwa Demonstrationen oder Fussballspielen bin ich noch involviert. Da bin ich bei den Rapporten dabei und lege den Rahmen in Absprachen mit der politisch Vorgesetzten fest. Solche Arbeit macht tatsächlich aber nur ungefähr 10 bis 15 Prozent meiner Tätigkeit aus. Dass ich richtig in einen Fall involviert werde, kommt kaum vor.
Der Grossteil meiner Arbeit besteht in der internen Führung und der Vertretung gegen aussen, was auch die Vermittlung zwischen Polizeikorps und Politik einschliesst – oder auch dieses Interview. Meine Aufgabe ist es schliesslich auch, einen Rahmen zu schaffen, in dem die Mitarbeitenden ihre Arbeit bestmöglich verrichten können.
Es besteht eine Arbeitsgruppe Kulturentwicklung, die den Prozess begleitet. In Gruppen mit Mitarbeitenden sind fünf zentrale Werte erarbeitet worden, die wir auch mit konkreten Massnahmen im Korps einpflegen. Die Werte betreffen die Punkte Respekt, Wertschätzung, Verbundenheit, Lösungsorientierung und Kommunikation. Zu Letzterem zählt etwa Transparenz oder Feedbackkultur. Und es soll nicht einfach bei leeren Worten bleiben, sondern wir achten auf die Umsetzung. Was genau heisst Wertschätzung bei wem? Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Bei Dienstjubiläen oder Pensionierungen achten wir darauf, was angemessen ist, und möchten diese Wertschätzung auch ehrlich zum Ausdruck bringen. Wir haben allgemein viel in die Kommunikation investiert. Einmal monatlich gibt es unter anderem eine kurze Videobotschaft von mir an alle Mitarbeitenden.
Soweit ich es mitbekomme, nehme ich es so wahr, dass die Leute offener werden und Vertrauen gewinnen. Auch den Umgang in der Geschäftsleitung nehme ich als sehr konstruktiv und positiv wahr.
Die neue Führungskultur von Anjan Sartory hat eine Vorgeschichte: 2021 und 2022 nahmen sich innerhalb eines halben Jahres zwei Polizisten der Stadtpolizei Winterthur das Leben. Es folgte aus dem Korps massive Kritik an der damaligen Führung, die dafür mitverantwortlich gemacht wurde. Der Fall wurde aufgearbeitet. Im Februar 2023 übernahm Anjan Sartory die Leitung mit dem Auftrag, einen Kulturwechsel herbeizuführen. Kurz nach seinem Antritt wurde er öffentlich und anonym heftig angegriffen. Sein «autoritärer» Führungsstil wurde angeprangert und in den Medien teilweise breitgeschlagen. Mitarbeitende wie auch Politik stärkten hingegen Sartorys Rücken. Die Vorwürfe wurden unter anderem mit dem Entscheid der Statthalterin klar entkräftet.
Zuerst haben sie viele Fragezeichen ausgelöst. Nach kaum sechs Wochen ging es los, ich war ja praktisch noch am Mich-Einarbeiten. Ich fiel aus allen Wolken. Und es hat mich persönlich getroffen. Denn ich wusste nicht, was ich falsch gemacht haben sollte nach so kurzer Zeit. Gleichzeitig war ich befremdet. Auch viele andere waren perplex über diese Eskalation in so kurzer Zeit. Ich habe aber bemerkt, dass viele hinter mir stehen. Auch die Pensioniertenvereinigung und der Polizeibeamtenverband. Die zuständige Stadträtin hat mich unterstützt und die Vorwürfe entkräftet. Das hat mich bestärkt.
Besonders bedauert habe ich das Korps während dieses medialen Sturms. Die Situation warf ja Fragen auf. Was ist jetzt schon wieder los bei euch? Was läuft da schief? Das tat mir leid für all die Mitarbeitenden, die sich einen Neuanfang wünschten.
Meine alleinige Sicht ist wohl nicht so repräsentativ. Ich kann nur so viel sagen, dass ich eine Offenheit bemerke und den Willen, etwas zu bewegen. Und ich glaube, es gelingt uns zu zeigen, dass hinter unseren Worten auch konkrete Taten sind und wir Schritt für Schritt vorangehen. Das fördert das Vertrauen.
Auch der Polizeibeamtenverband äussert sich auf Anfrage zur neuen Situation: «Man bemerkt eine Aufbruchstimmung im Korps», teilt der Vorstand mit. «Diese wird teilweise aber immer noch durch Strukturen getrübt, welche sich aus Entscheidungen vergangener Tage ergaben.» Zwar würde sich der Verband noch mehr politische Unterstützung wünschen, doch lobt er dafür explizit die Massnahmen der neuen Führung: «In verschiedenen Arbeitsgruppen erhalten die Mitarbeitenden Gelegenheit, die Zukunft des Korps aktiv mitzugestalten. Man merkt den frischen Wind in der neuen Geschäftsleitung.»
Das gehört zur Funktion. Alles wird auf Schritt und Tritt mitverfolgt, sogar in der Freizeit. Ich wurde schon verkleidet an der Fasnacht erkannt und angesprochen (lacht). Aber ich war mir dieser Rolle beim Antritt der Stelle bewusst.
Ich empfinde das nicht als Belastung. Man wächst da mit der Zeit hinein. Ich habe das in früheren Positionen ja bereits erlebt. Schon zu Hause habe ich es mitbekommen, da mein Vater auch politisch tätig war als Sicherheitschef.
Dadurch, dass ich hinter die Kulissen sehe und vieles direkt mitbekomme, erhalte ich über manche Dinge ein anderes Bild. Das ist ein wenig wie der Unterschied zwischen Film und Realität. Etwa bei Themen wie häuslicher Gewalt: Man liest viel davon und hört, dass sie zunimmt. Was genau aber heisst das? Was löst es bei Betroffenen aus? Welche Rolle spielt hier die Polizeiarbeit? Oder warum verhält sich die Polizei bei Demos so, wie sie es tut? Wir lernen früh, was «verhältnismässig handeln» bedeutet. Durch die Polizeiarbeit relativiert sich die Sicht auf vieles.
Als ich 2019 bei der Stadtpolizei St. Gallen anfing, hatten wir die politische Vorgabe, mehr Frauen in die Geschäftsleitung der Polizei zu bringen. Der Bereich Sicherheit umfasste 150 Personen, in der Führung war damals keine einzige Frau. Also habe ich dies in meine Masterarbeit aufgenommen.
Rund 20 Prozent, in absoluten Zahlen sind das zehn von rund 50 Kaderpositionen, je nachdem, wie man genau Kader definiert. In der Geschäftsleitung sind wir sieben Personen, seit Anfang Jahr sind zwei davon Frauen. Als Polizeikorps kann man sich damit sehen lassen.
Auch bei uns bringen Frauen spezifische Stärken in gemischte Teams ein. Zudem herrscht Fachkräftemangel bei der Polizei, weshalb wir auf fähige Frauen angewiesen sind. Auch bei bestimmten Delikten sind Frauen im Team wichtig. Beispielsweise bei Einvernahmen infolge häuslicher Gewalt. In der Führung gilt es Vorbilder zu schaffen, an denen sich junge Frauen orientieren können, damit wir wiederum Nachwuchs haben.
Das familiäre Umfeld gibt mir viel. Am Bodensee haben wir ein Mobilheim auf einem Campingplatz. Dort ist es für mich wie Ferien. Gerade im Sommer bin ich etwa jedes zweite Wochenende dort. Besonders gerne auch mit meinen Söhnen, die 20 und 10 Jahre alt sind.
Sofort. Ich habe einen spannenden Job, komme jeden Tag gerne zur Arbeit, freue mich auf die Leute hier und auf meine Aufgaben. Es macht Spass.