Autorin: Ursula Ammann, Mitarbeiterin Kommunikation Weiterbildung OST
Karl Weilbach: Im Vergleich zu Gewalt- und Tötungsdelikten im häuslichen Bereich oder zu Femiziden sind solche Angriffe zum GlĂĽck selten. Dennoch sind sie schwerwiegend, denn sie zielen auf Schädigung, Verletzung oder gar Tötung ab. Die willkĂĽrliche Opferwahl hat etwas sehr Erschreckendes. Berichte ĂĽber Angriffe auf Kinder, Frauen und Schwangere gehen ganz besonders unter die Haut – und sie haben Einfluss auf unser aller Sicherheits- beziehungsweise UnsicherheitsgefĂĽhl.Â
Im Fall des Machetenangriffs ist das Motiv des Täters noch nicht öffentlich bekannt. Oft ist es jedoch so, dass die angegriffenen Menschen eine Sündenbockfunktion haben und als Projektionsfläche dienen, weil sie das verkörpern, was die Täter oder Täterinnen vernichten wollen. Letztere machen andere verantwortlich für die Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens, für das eigene Versagen. So übertragen ihr verzerrtes Selbst- und Weltbild auf ahnungslose Opfer, sind getrieben von Neid und sozialen Ängsten – etwa der Angst, aus sozialen Gemeinschaften ausgeschlossen oder «abgehängt» zu werden. Zusehen zu müssen, wie andere Glück, Zugehörigkeit, Leichtigkeit oder Privilegien leben, also etwas, das ihnen selbst abhandengekommen ist, empfinden sie als unerträglich. Der Aggressionsakt ist quasi eine Botschaft, dass die Welt ungerecht ist und dass Schluss sein soll mit dem eigenen Leiden an Verlust, Scheitern oder Versagen.
Schweren Gewalttaten von Einzelnen geht meist ein starkes Kränkungserleben voraus, das die Person notfalls durch die Anwendung von Gewalt zu kompensieren versucht.
Jede Tat ist ein Einzelfall, dessen Ursachen und Auslöser näher untersucht werden müssen. Auch Persönlichkeit, Motive und Anlässe sind unterschiedlich. Schweren Gewalttaten von Einzelnen geht aber meist ein starkes Kränkungserleben voraus, das die Person notfalls durch die Anwendung von Gewalt zu kompensieren versucht. Gemäss dem amerikanischen Soziologen und Kriminologen Jack Katz folgt auf das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, das Bedürfnis, die beschädigte Identität zu «verteidigen» und die Gewaltanwendung sogar moralisch zu rechtfertigen und zu verklären. Der Täter hält sein Handeln für notwendig und nimmt für sich in Anspruch, etwas «Gutes» zu tun. Er wähnt sich im Recht, seine Gegner angreifen und vernichten zu dürfen. Das war auch das Mindset des Zuger Attentäters im Jahr 2001, über den ich meine Dissertation geschrieben habe.
Als Diplom-Kriminologe und forensischer Prognostiker (IOT) beschäftigt sich Karl Weilbach seit drei Jahrzehnten mit meist schweren Formen zwischenmenschlicher Konflikte, Bedrohungen und Gewalthandlungen bis hin zu Mehrfachtötungen. Sein Wissen vermittelt er als Dozent an mehreren Instituten und Hochschulen, so auch an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, wo er den CAS Krisenintervention leitet. Karl Weilbach ist Autor mehrerer Fachpublikationen. Im Rahmen seiner Doktorarbeit schrieb er eine kriminologische Fallstudie zum Amoklauf im Zuger Kantonsparlament. 2024 veröffentlichte Karl Weilbach zusammen mit dem Kommandanten der Stadtpolizei St. Gallen, Ralph Hurni, eine Publikation über Massnahmen und Krisenintervention nach polizeilichem Schusswaffengebrauch.
Die Beschäftigung mit dem Attentäter von Zug zeigte unter anderem drei Entwicklungsstadien auf, die dazu führen, dass jemand die Tötungshemmung, die uns Menschen innewohnt, verliert: Die Ebene der Interpretation, die Ebene der Transformation und die Ebene des Handelns. Zuerst interpretiert der spätere Täter bestimmte Umstände, soziale Vorgänge oder Verhaltensweisen seiner Mitmenschen höchst subjektiv. Dabei nimmt er an, dass andere – ob Einzelpersonen oder Zugehörige spezifischer Gruppen – ihn persönlich gekränkt oder gedemütigt hätten. Er glaubt, seine Identität und seine Werte verteidigen zu müssen und wandelt das Erleben von Demütigung und Kränkung in eine nach Aussen gerichtete Wut um. Er will sich wehren, sieht sich als Verteidiger seiner verletzten Identität und seiner moralischen Vorstellungen. Mit dieser Transformation der Demütigung in Wut stellt er für sich einen vermeintlichen Ausgleich und eine Einheit mit etwas Sinnhaftem her. Schliesslich entwickelt er ein gewaltsames Verteidigungs- respektive Vergeltungsprojekt. Er fordert den aus seiner Sicht gebührenden «Respekt» durch Gewalt ein und führt – geplant und kalt – sein aggressives Vorhaben durch: gezielt schädigend, völlig mitleidlos und womöglich bis hin zur Tötung seiner vermeintlichen Gegner oder der auserwählten Sündenböcke.
Gewalt muss nicht, aber kann auch Ausdruck eines Krankheitsgeschehens sein. Ein tragisches Beispiel dafür ereignete sich im April dieses Jahres in einem Supermarkt in Wangen im Allgäu zu. Dort hat ein Mann mit einem Küchenmesser unvermittelt auf ein vierjähriges Mädchen eingestochen. Der Täter wurde von einem Supermarktkunden gestellt. Das Kind überlebte dank Notoperation. In der Gerichtsverhandlung Anfang Oktober 2024 gab der Täter an, er habe auf eine göttliche Eingebung hin gehandelt. Tatsächlich geht auch die Staatsanwaltschaft wegen einer diagnostizierten paranoiden Schizophrenie von der Schuldunfähigkeit des Täters aus, für den Sicherheitsverwahrung beantragt wurde. Um nicht missverstanden zu werden: Psychosen führen nicht zwangsläufig zu Gewalthandlungen, ebenso wenig führt nicht jede Wut zur Realisierung von Gewaltfantasien. Aber solche Bedingungen könnten die Auflösung der angeborenen Tötungshemmung begünstigen.
Charakteristisch für eine Tat im Kontrollverlust ist, dass die Tat nicht vorbereitet wurde und der Tatablauf wenig zielgerichtet gestaltet ist. Zudem ist die Selbstreflexion über das eigene Handeln deutlich herabgesetzt. Das sind nur einige von mehreren Kriterien. Ob der Täter einen Kontrollverlust erlitt, bedarf einer genauen Abklärung. Den Hintergründen von Affektdelikten hat sich besonders der deutsche Psychiater Henning Saß gewidmet. Affektdelikte kommen jedoch weniger häufig vor als die Schutzbehauptung, dass jemand die Kontrolle über sein Handeln verloren hätte. Den Begriff des Kontrollverlustes betrachte ich deshalb meist unter einem anderen Blickwinkel: Da hat jemand die Kontrolle über eine Situation, über ein zwischenmenschliches Geschehen oder vermeintlich über sein Leben verloren. Es entsteht das Bedürfnis, die Kontrolle wiederzuerlangen. Die Gedanken und Handlungen drehen sich dann vielmehr um «Kontrollgewinn». Bei einigen kann sich der entsprechende Lösungsversuch in sozial abweichendem Verhalten oder in Gewaltbereitschaft zeigen. Dabei kann die Gewalt in zwei Richtungen weisen: Manche Menschen üben ihr Kontroll- und Gewaltbedürfnis «instrumentell» aus, andere «expressiv».
Die instrumentelle Gewalt geschieht schrittweise: Der Akteur übt nur so viel Druck und Gewalt aus, wie es für die Erlangung seines Zieles – hier der Kontrolle – notwendig ist. So kann schon ein Anschreien oder das Erheben der Hand das Gegenüber zum Nachgeben bringen. Wenn dies nichts nützt, kommt es zu einer Steigerung: etwa zum Schubsen oder zum Spucken. Und wenn das wieder keine Wirkung zeigt, werden die Methoden forciert, bis hin zum Einsatz von Waffen. Der gestaffelte und kalte Einsatz der Instrumente dient einem bestimmten Deliktziel. Bei der expressiven Gewalt geht es hingegen darum, einen Gefühlszustand möglichst rasch wieder loszuwerden. Nach einer ersten voraggressiven Phase, die sich in schlechter Laune oder Ärger äussert, kommt es in der aggressiven Phase zu massiven Wut- und Rachegefühlen. Diesen «heissen» Gefühlen wird dann in der hochaggressiven Phase der Raum für konkrete Gewaltvorbereitungen und -handlungen gegeben. Die Gewalt soll maximal und unabwendbar sein. Sie entspricht einer völligen Entgrenzung.
Nicht allen Drohungen folgt reale Gewalt. Aber den meisten Gewalthandlungen gehen Drohungen voraus.
Nicht allen Drohungen folgt reale Gewalt. Aber den meisten Gewalthandlungen gehen Drohungen voraus. Deshalb braucht es das Hinterfragen und Bewerten der Drohungen. Mit den Gedanken eines drohenden und gewaltbereiten Menschen beschäftigt sich das JACA-Modell des amerikanischen Sicherheitsspezialisten Gavin de Becker. Es hilft anhand von vier Kriterien (siehe Kasten) bei der Einschätzung von Risiken. Um die Fragen von aussen beantworten zu können, ist man natürlich auf Informationen angewiesen. Dabei ist es von Vorteil, zu wissen oder zu erfahren, ob jemand bereits kriminelle Handlungen begangen hat, bereits polizeilich in Erscheinung getreten, eine militärische Ausbildung oder Einsätze hinter sich hat oder eine Affinität oder Zugang zu Waffen besitzt. Das Risiko für eine Gewalttat ist höher, wenn die drohende Person bereits eine Vorgeschichte mit Gewalt hat.
J - Hat der Akteur gesagt, dass er eine schwere Gewalttat für gerechtfertigt hält? (Justification)
A - Glaubt der Akteur, dass es keine wirksameren Alternativen mehr gibt als Gewalt? (Alternatives)
C - Wird klar oder sagt der Akteur, dass er mit den Folgen seiner vorgesehenen Aggressionshandlung leben kann oder will? (Consequences)
A - Ist oder betrachtet sich der Akteur wirklich als fähig, eine schwere Gewalttat zu begehen? (Ability)
Man kann eine Person, die einmal aufgefallen ist, nicht dauerhaft «labeln» und «überwachen». Es wäre auch eine Illusion zu glauben, dass es straf- und polizeirechtlich in allen Fällen gelingen könnte, Täter von künftigen Straftaten abzuhalten. Dazu bräuchte es ausreichende Hinweise, die häufig fehlen und keine oder noch keine Interventionen rechtfertigen. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma: Es wird, was nachvollziehbar ist, erwartet, dass konkrete Rechtsverletzungen und Straftaten präventiv verhindert werden. Das Strafrecht wird deshalb immer mehr als ein System der Vorbeugung und Kontrolle von Gefahren verstanden. Rechtsstaatlich aber ist es nicht möglich, einer auffälligen oder einmal als gefährlich eingestuften Person die Fähigkeit zur persönlichen Änderung dauerhaft abzusprechen. Auch eine polizeibekannte Person ist ein Subjekt mit menschlichen Eigenschaften. Die Person darf nicht per se zu einer permanenten Gefahrenquelle oder zum Objekt der Verbrechensbekämpfung degradiert werden.
Wer Gewalt oder Gewaltbereitschaft bei anderen wahrnimmt, muss wagen, kritisch hinzuschauen, aktiv hinzuhören und schliesslich den Mund aufzumachen.
Wer Gewalt oder Gewaltbereitschaft bei anderen wahrnimmt, muss wagen, kritisch hinzuschauen, aktiv hinzuhören und schliesslich den Mund aufzumachen. Bei «mulmigem» Gefühl sollte das soziale Umfeld eine hohe Aufmerksamkeit entwickeln und rechtzeitig Fachstellen oder die Polizei miteinbeziehen. Es hilft, mit anderen über die eigenen Beobachtungen oder Eindrücke zu sprechen und sich darüber auszutauschen, was sein könnte und was es zu verhindern gilt. Gesellschaftlich gesehen wäre die Förderung von Dialog, die Rückkehr zu sozialer Gemeinschaft und die Herstellung von Empathie und Solidarität wünschenswert. Es braucht aber auch mehr soziales Bewusstsein, mehr soziale Kontrolle und bei Bedarf klare staatliche Interventionsmassnahmen und psychosoziale Institutionen.
Es ist erfreulich, dass sich die staatlichen Instanzen dem Gewaltproblem, insbesondere der häuslichen Gewalt, deutlich ernsthafter und wirksamer annehmen als noch vor 10 oder 20 Jahren. So wurde in den meisten Kantonen das sogenannte polizeiliche Bedrohungsmanagement aufgebaut. An diese Stellen kann man sich wenden, um Hinweise auf Drohungen, Bedrohungen oder Gewaltgefahren zu geben. Man muss also nicht gleich eine Anzeige erstatten, sondern macht die Fachstelle auf ein Problem aufmerksam beziehungsweise sucht ihren Rat. Die Mitarbeitenden der Fachstelle, primär Polizeiangehörige und Sozialarbeitende, erwägen dann, ob und welche Massnahmen sinnvoll wären und wann und wie eine sogenannte Gefährderansprache durchgeführt werden soll. Von der Polizei kontaktiert zu werden ist für jene, die Grenzen überschritten haben und andere gefährden könnten, einerseits ein kommunikativer Warnschuss. Andererseits ist die Ansprache auch ein wichtiger Schritt, um diese Personen einer Beratungsstelle oder einer Behandlung zuzuführen. Wenn ein Gefährder auf diesem Wege nicht «abgefangen» werden kann, müssen polizeiliche Anzeigen oder restriktive Interventionsmassnahmen erfolgen.
Entscheidend ist, die eigenen Befürchtungen ernst zu nehmen und das ungute Gefühl nicht allein mit sich herumzutragen oder gar abzuschütteln. Erlebnisse und Eindrücke sollten mit anderen geteilt und überprüft werden. Gavin de Becker zeigt im Buch «Mut zur Angst», welchen Unsicherheitsgefühlen man vertrauen sollte und wie uns Ängste vor Gewalt schützen. Zudem empfehle ich immer auch das Präventionsunternehmen «yourpower.ch». Man kann dort «richtiges Schutzverhalten» lernen.
Viel Menschen in einer Krise tun sich schwer, sich zu öffnen, sich fachlichen Rat zu holen und ihrem fragil gewordenen Selbstbild in die Augen zu schauen. Für sie gäbe es zunächst niedrigschwellige Angebote: zum Beispiel ein Sorgentelefon wie die Dargebotene Hand 143 oder die Hausärztin beziehungsweise der Hausarzt, wo man die eigene Not und Ambivalenz platzieren kann. Diese Erstkontakte können weiterführende fachspezifische Angebote vermitteln. Es gibt verschiedene Beratungsstellen, die Männer – aber auch Frauen – dazu ermutigen, offen über ihre aggressiven Impulse und ihren Ärger zu sprechen und sich selbst davor zu schützen. Die Klientinnen und Klienten können dort ihre Wut- und Rachegefühle oder ihre Gewaltfantasien in einem geschützten Rahmen deponieren und so kanalisieren, dass es keine anderen Menschen trifft. Für viele ist der Weg in solche Beratungen eine nahezu erstmalige Erfahrung, über ihr Befinden, über ihr Selbst- und Fremdbild und über ihre sozialen oder auch unsozialen Verhaltensweisen nachzudenken und Veränderungsbereitschaft zu entwickeln. Dies festigt bei dem oder der Betroffenen zwei Erkenntnisse: «Ich befinde mich in einer schweren persönlichen Krise. Aber Gewalt gegen andere oder gegen mich selbst ist keine Lösung.»
Der CAS Krisenintervention an der OST – Ostschweizer Fachhochschule befähigt die Teilnehmenden dazu, Menschen in individuellen Krisen professionell zu begleiten, eine Unterstützung zur Wiedergewinnung von persönlicher Handlungsfähigkeit zu bieten und durch entlastende und stützende Massnahmen zur Stabilisierung der Lebensumstände beizutragen. Die Vermittlung von Kenntnissen zum Gewaltphänomen und zu interventionistischen und beraterischen Ansätzen ist dabei ein Aspekt. In diesem Zusammenhang geht es um Fragen zur Entstehung und Phänomenologie verschiedener Gewaltformen, um Ansätze zur Beziehungsaufnahme mit Gewalttätern und -täterinnen, um Klarheit in der Beratung beim Ansprechen der Gewaltproblematik, um motivationsfördernde Konfrontation sowie um Herausforderungen für Beratung, Therapie, Verhaltensmodifizierung. Die Teilnehmenden erkennen, dass man durch ein strukturiertes und zielorientiertes Vorgehen zu einer Risikominderung beitragen und neue Konfliktlösungswege eröffnen kann. Der CAS Krisenintervention kann als in sich geschlossene Weiterbildung oder als Teil des MAS Psychosoziale Beratung absolviert werden.
Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf weiterwissen.ch veröffentlicht.