Autor: Guy Studer
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Heute gilt schon fast: Wer mit seinem Unternehmen auffallen will, muss irgendwas mit KI machen. Das ist modern, das ist nun State of the Art. Gleichzeitig ist der KI-Hype bereits am Abklingen. Wir haben unsere ersten Erfahrungen damit gemacht, wer sich damit auseinandergesetzt hat, weiss: Hexerei ist auch das nicht. Trotzdem durchdringt die neue Form der maschinellen Intelligenz Alltag und Arbeitswelt nach und nach – hier etwas mehr als dort. In einigen Gebieten löst sie tatsächlich Evolutionsschübe aus. In unserem Alltag nehmen wir sie, je nachdem, als nützliche kleine Hilfe wahr. Und sagen uns vielleicht: «Was soll’s? Kommt ja sowieso.» So «rutschen» wir langsam hinein, freiwillig wie unfreiwillig.
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Auch Norman Süsstrunk ist in sein Forschungs- und Arbeitsfeld «reingerutscht», wie er selber sagt. Er hat die Entwicklung der künstlichen Intelligenz aus dem klassischen Machine Learning heraus hautnah miterlebt. Entsprechend pragmatisch ist seine Sicht auf die Möglichkeiten und Gefahren. Oder wie er sagt: «Trotz der menschenähnlichen Funktionsweise und der Möglichkeit, gigantische Datenmengen zu verarbeiten, ist eine KI niemals so komplex wie unser Gehirn.»
Normans Stammgebiet ist die Softwareentwicklung. Er absolvierte an der Fachhochschule Graubünden (FHGR), damals noch HTW Chur, einen Bachelor in Telecommunications sowie einen Master in Informatik. Im Anschluss stieg er gleich bei seiner Fachhochschule als Softwareentwickler ein, wo er, nach einem Ausflug in die Privatwirtschaft, seit 2022 wieder arbeitet. In erster Linie als Forscher, zum kleineren Teil als Dozent. «Mein Fokus lag schon immer auf der Anwendung», sagt Norman. Deshalb wählte er damals den Weg an die FH bewusst. Dies nach einem abgebrochenen Unistudium in Wirtschaftsinformatik.
In Chur kam er nach dem Studium in ein Team, das im Bereich Natural Language Processing (NLP) forschte. Also jene Disziplin, die sich damit beschäftigt, einer Maschine Textverständnis beizubringen. NLP war eine der wegbereitenden Technologien für das, was wir heute KI nennen – und erhielt bald eine bedeutende Rolle. «Man hatte erkannt, dass die Interpretation menschlicher Sprache der Schlüssel sein muss zu einer Form von künstlicher Intelligenz.» Wichtig daher an dieser Stelle: NLP und Machine Learning sind nicht die einzige Form von KI – auch wenn im Moment alle bei KI von Sprachmodellen wie ChatGPT reden. Etwas, das Norman im Gespräch mehrmals betont.
Mein Fokus lag schon immer auf der Anwendung.
Etwa 2011 war es, als der entscheidende Switch von Machine Learning zum Deep Learning erfolgte. Anstelle von rein mathematisch-statistischen Modellen traten künstliche neuronale Netze (KNN, siehe Beschrieb rechts unten). Sie orientieren sich bekanntlich an der Funktionsweise des menschlichen Gehirns. «Daher nennt man sie auch menschenähnliche Intelligenz.» Der Paradigmenwechsel liegt dabei nicht nur im neuen Ansatz eines grossen neuronalen Netzes – eine Idee und Technik, die übrigens bereits bald 100 Jahre alt ist –, sondern darin, dass dieses anpassungs-, also lernfähig ist und seine Lösungsfindung nicht mehr linear verläuft. Dadurch wird ein solches Netzwerk zur Blackbox. «Was in der mittleren Schicht eines Netzwerks passiert, ist nicht mehr durchschaubar», so Norman. «Vorher konnten wir unsere Ergebnisse einfach mathematisch wieder zurückrechnen. So blieb für uns immer nachvollziehbar, wie ein Computer zu seinem Ergebnis kam.»
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Als anwendungsorientierter Forscher an der FHGR liegt nun Normans hauptsächliche Arbeit darin, in Praxisprojekten zusammen mit Wirtschaftspartnern die KI-Anwendungen für bestimmte Bereiche und Aufgaben zu entwickeln und zu trainieren. Ein Beispiel wäre die Bildsortierung einer grossen Pressebild-Agentur: «Täglich fliessen dort Abertausende Bilder ins System», erklärt Norman. Diese sind mit einfachen Informationen oder Metadaten getagged. Das Ordnungssystem der Agentur sei komplex und verschachtelt. Die Bilder wurden daher von Menschenhand im System zugeordnet. «Da die Bilder mit Textdaten versehen sind, kann man aber auch ein System trainieren, um die immer grösseren Bilderdatenmengen kostensparend einzuordnen.» Dies war eine der ersten Anwendungen, die via FHGR mithilfe von Deep Learning eingerichtet wurden, so Norman.
Andere Felder wiederum eigneten sich früher wie auch heute gar nicht für KI, auch wenn das gerne angenommen oder suggeriert wird. In Anwendungen, bei denen die Interpretierbarkeit des Modells entscheidend ist, wie beispielsweise bei Kreditentscheidungen, medizinischen Diagnosen oder im Finanzwesen, bieten klassische Verfahren klare Vorteile. Modelle wie Entscheidungsbäume oder logistische Regression liefern leicht verständliche Ergebnisse und zeigen explizite Beziehungen zwischen den Eingabedaten und den Vorhersagen. Diese Transparenz ist in Bereichen, in denen die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen für regulatorische Anforderungen oder ethische Bedenken wichtig ist, von grosser Bedeutung.
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Für spezialisierte Aufgaben sieht Normen natürlicherweise ein sehr grosses Potenzial in der KI. Etwas kritischer ist sein Blick hinsichtlich breit ausgelegter Anwendungen wie das bestens bekannte ChatGPT. Einerseits sei da die Gefahr, ein solches Programm als Wundermittel für alle Fragen zu interpretieren. Andererseits ist da die Frage nach dem Datenschutz. Ohne entsprechende Voreinstellung geben wir als Anwender Daten – eventuell sehr sensible Informationen – ein, die in einem Netzwerk weiter genutzt und verarbeitet werden (siehe dazu Interview Seite 28). Die gesetzlichen Bestimmungen dazu sind, Stand heute, noch immer sehr vage und hinken hinter der technologischen Entwicklung her. «In dieser Hinsicht bin ich sehr gespannt, in welche Richtung die Entwicklung auf gesetzlicher Ebene gehen wird», sagt der Spezialist abschliessend.