Die ZHAW-Bibliothek in Winterthur ist ja ein echtes Schmuckstück. Das alte shabby-chice Fabrikgebäudeskelett strahlt modern-industrielles Flair aus, während das Interieur mit Lernlandschaften und Grünanalgen dem Zeitgeist schon fast in den Arsch kriecht. Die Architektur verschmilzt elegant altes Büezertum mit dem zeitgemässen Ruf nach bildungsbasierter Qualifikation. Die Bibliothek darf vielleicht sogar als manifestierte Metapher für die Transformation der Schweiz durch die Wirtschaftssektoren herhalten. Doch darum geht es mir nicht.
Während sichergestellt wurde, dass Studierende und sonstige Bibliotheksbesuchende ergonomisch korrekt und ohne durch die Abwesenheit von Grün optisch beleidigt zu werden Wissen in sich hineinschaufeln können, wurden sie nämlich über den Tisch gezogen. So richtig. Danach wurde ihnen noch ins Gesicht gespuckt.
Ich spreche natürlich vom Treppenhaus der Bibliothek. Während das Gebäude scheinbar mit seiner schieren Existenz garantiert, dass Veränderung erfolgreich mit Fortschritt begegnet werden kann, entblösst die groteske Betonsteige diesen selbstsicheren Fortschrittsoptimismus als grausame Illusion. Es ist ein bisschen wie ein schwarz-weiss Bild eines hungernden Kindes: Schaut man nicht zu genau hin, hat es durchaus ästhetische Qualifikation. Die inhärente Tragik drängt sich einem aber früher oder später unweigerlich auf.
Bei der Bibliothek kommt dieser Moment eher früher als später. Dann nämlich, wenn der frisch-naive Geist das erste Mal die ersten beiden Treppensegmente zum ersten Stock erklommen hat. Naiv, weil das nicht der erste Stock ist. «Zwischengeschoss» steht da.
Und dann fängt die Fassade an zu bröckeln, genau wie der Putz des alten Fabrikgebäudes. Die Lüge wird greifbar. Allerdings wird der klare Blick auf die boshafte Realität noch getrübt von der eigenen Bequemlichkeit, nicht aus der eigenen so sorgfältig konstruierten und kultivierten Wirklichkeit herausgeschleudert werden zu wollen. Aber diese zweite Geburt wird unweigerlich kommen. Die kalten, leblosen Klauen der Realität zerren dich unbarmherzig aus dem wohlig-warmen Mutterleib aus Ignoranz, Selbsttäuschung und ungerechtfertigter Selbstsicherheit, in den du dich in anmassender Unwissenheit eingemummelt hast, und schleudern dich krachend gegen das wacklige und morsche Fundament deines eigenen Weltbildes, hinaus in die Dürre der Wirklichkeit, in der sich das Lachen der Sonne zu einem hämischen Grinsen verzieht, das sich aus deinem sinnlosen Leiden nährt. Das wird Spuren hinterlassen. Denn deine Eltern haben dich nicht darauf vorbereitet, was da draussen lauert. Vielleicht war es Unwissenheit ihrerseits, vielleicht war es ein Schutzinstinkt, die eigene Brut von der zynischen Logik der Seins zu beschützen, aber auf jeden Fall, ganz sicher, ein Akt der Liebe. Angesichts der Pein der Realität, die du erst jetzt wirklich, richtig, spüren kannst, verwandelt sich dieses Wort – Liebe ‒ aber zu Asche in deinem Mund, zum Fluch deiner Existenz. Du weisst nicht, ob du jemals wieder irgendwem trauen kannst, auch, weil du dir nicht mehr sicher bist, ob du die Bedeutung davon überhaupt noch kennst. Und da hast du noch nicht mal die Hälfte der Treppenstufen hinter dir gelassen.
Nach dem «Zwischengeschoss» kommt nämlich nicht der ersehnte, der dir als Geburtsrecht zustehende erste Stock. Was kommt ist ein in seiner lakonischen Banalität unerreichte Beleidigung deiner Existenz: «Zwischengeschoss». Es fühlt sich einfach unnötig an diese Demütigung, wie der Tritt in die Magengrube einer am Boden verwesenden Leiche, die sich damals als noch lebendige Person am Bahnhofkiosk vor dich gedrängelt hat, als du es nicht besonders eilig hattest.
Den Weg weiter rauf nimmst du nur auf dich, weil noch ein Quantum Trotz in dir ist, der evolutionäre Überlebensfunke, der deine Spezies davor bewahrt hat, auszusterben. Deine Kontemplation wird mittlerweile von einem Lungentinnitus untermalt, der ein Anzeichen dafür ist, dass Sauerstoffmangel eine baldige Konsequenz deiner Odyssee sein wird. Doch genauso wie die Hoffnung uns Menschen Epidemien, Krieg und Krankheit hat überleben lassen, so erweist sie sich auch bei dir, du arroganter Narr, als Parasit, der dich vermeintlich zum Licht streben lässt, aber dich nur zu nahe an die Sonne führt.
Es gibt einen Parasiten, der sich in den Augen von Fischen festsetzt und den Tieren während deren Wachstum hilft, zu überleben. Ist der Fisch aber ausgewachsen, tut der Parasit alles, damit sein Wirt von einem Vogel gefressen wird, um sich so weiterzuverbreiten. Du bist der Fisch. Und du wirst gefressen werden.
Aber du siehst das noch nicht ein, denn er ist da: Der erste Stock, «1. OG». Dein Ritterschlag, Lieder wird man singen über dich. Du würdest ja selbst, aber dein trockenes Röcheln ist nur die Trauermelodie zu deiner Beerdigung, die du in sauerstoffmangelinduzierter Verblendung als inbrünstiges Siegesgebrüll dünkst.
Du bist schwach und die Versuchung ist stark: Wie der spielsüchtige Black-Jack-Spieler verwechselst du deine kurze Auszeit vom Leiden mit einer Glückssträhne und gehst aufs Ganze, du willst noch eine Karte. Und wie beim spielsüchtigen Black-Jack-Spieler wird das Haus gewinnen. Denn das Haus gewinnt immer. Aber du willst das nicht wissen, du willst nach ganz oben. Die hinter dir liegenden Strapazen bedeuten dir nichts mehr, denn du bist Mensch, und der Mensch lernt nichts aus seiner Vergangenheit. Also steigst du weiter empor auf lächerlich genormten Treppenstufen, die in der Höhe weder optimal sind, noch niedrig genug, um dich gerechtfertigter Weise über sie zu beschweren. Sie sind wie die Bolschewiken im Zweiten Weltkrieg: Einzeln kein wirklicher Gegner, aber zu viele, um auf Dauer gegen sie bestehen zu können. Doch du ignorierst die in dir langsam dämmernde Ahnung von Verderbnis, du glaubst die Stufen hinauf dem Abgrund entrinnen zu können. Du liegst falsch.
Es kommt ein «Zwischengeschoss». Es ist, als probierten sie nicht mal mehr, dich zu beleidigen, zu quälen. Die ganze Szenerie hat vollkommen die persönliche Note verloren. Was bleibt ist die perfide Sterilität des Leids, nicht gemacht für den Menschen, fast generisch. Das «Zwischengeschoss» hängt dort nicht für dich oder irgendjemanden sonst. Es ist nicht für menschliche Augen gedacht. Es hängt dort, weil ein Paragraf in einer Bauordnung besagt, es habe dort zu hängen. Du hast mit dieser Sache nichts mehr zu tun. Warst du vorher wenigstens noch Statist in einem niederträchtigen Schauspiel, bist du nun nicht mal mehr in der Staffage vorgesehen. Zuvor wurde deine Existenz wenigstens noch anerkannt, in der grausamen Verschwörung der elementaren Welt gegen dich lag ein Respekt für dich als Person, als Mensch. Das ist vorbei. Mit letzter Kraft schleifst du deinen Körper, diesen Sack Kartoffeln, über die letzte Stufe und streckst deine Hand gegen das Schild «2. OG», das in deinem verschwimmenden Sichtfeld das Ende deiner Eskapaden signalisiert. Du bist ganz oben angekommen, du hast es geschafft und du weisst, dass sich niemand daran erinnern wird und alles umsonst war. Du bist am Ende, das Haus gewinnt. Wir verlieren.
Fick dich, Treppe.
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im Brainstorm-Magazin erschienen.