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«Auffälliges Verhalten ist Ausdruck der Überlebensstrategie»

Ob Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt: Die Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können, sind vielfältig. Melanie Bamert, Absolventin des MAS Psychosoziale Beratung, begleitet Betroffene und deren Pflegefamilien.

Autor: Ursula Amman

Dabei hat sie immer wieder Berührungspunkte mit Schulen. In ihrer Masterarbeit hat sich die Sozialpädagogin mit der Integration, Unterstützung und Begleitung von Pflegekindern im schulischen Kontext auseinandergesetzt. Im Interview spricht sie darüber, was Pflegekinder zu bewältigen haben, welchen Vorurteilen sie in der Schule ausgesetzt sind und was ihnen hilft, sich im Alltag zurechtzufinden.

Interview:

Was unterscheidet Pflegekinder von Kindern, die bei ihren Eltern leben?

Pflegekinder tragen einen riesigen Rucksack an unschönen bis traumatischen Erfahrungen mit sich.  So haben sie in ihrem jungen Leben meist bereits Schicksalsschläge erlitten, erlebten Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch oder mussten zusehen, wie einem geliebtem Menschen Unrecht getan worden ist. Die meisten Pflegekinder kommen durch einen Beschluss der KESB in eine Pflegefamilie. Natürlich gibt es auch Kinder, die bei ihren Eltern leben, jedoch nicht unter optimalen Bedingungen aufwachsen. Bei Pflegekindern kommt aber hinzu, dass sie diverse zusätzliche Entwicklungsaufgaben zu meistern haben. Sie müssen sich an eine neue Familie gewöhnen, eine Beziehung zu den Pflegeeltern und allenfalls zu Pflegegeschwistern aufbauen. Eine der wichtigsten und oft schwierigsten Aufgabe ist, die eigene Situation, also das «Pflegekindsein», zu akzeptieren. Gleichzeitig sind Pflegekinder wegen ihres Sonderstatus ständig darum bemüht, die Normalitätsbalance aufrechtzuerhalten.

«Die meisten Pflegekinder machen sich intensiv darüber Gedanken, warum sie nicht zuhause leben können. Sie hadern mit sich und ihrer Situation. Auch Sorgen um die Eltern und sogar Schuldgefühle sind vielfach vorhanden.»

 

 

 

Melanie Bamert
Absolventin MAS Psychosoziale Beratung

Empfinden sich Pflegekinder als «nicht normal»?

Sie stellen ihre Normalität aufgrund ihrer Biografie immer wieder infrage. Die meisten Pflegekinder machen sich intensiv darüber Gedanken, warum sie nicht zuhause leben können. Sie hadern mit sich und ihrer Situation. Auch Sorgen um die Eltern und sogar Schuldgefühle sind vielfach vorhanden. So fühlen sie sich beispielsweise verantwortlich für die Sucht ihrer Eltern. Sie denken, dass die Mutter oder der Vater so viel Alkohol trinkt, weil sie so ungehorsam waren. Zwar gibt es Pflegekinder, die ihre Situation gut akzeptieren können. Vielen aber fällt das sehr schwer. Dadurch sind sie in zahlreichen Bereichen blockiert.

Auch in der Schule?

Oftmals haben Pflegekinder schlichtweg «keinen Kopf zum Lernen». Sie sind mit den Gedanken an einem anderen Ort – gerade auch deshalb, weil sie sich Sorgen um die leiblichen Eltern machen. Die Schule wird deshalb nicht selten zum Streitpunkt zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern. Letztere möchten, dass ihre Schützlinge in der Schule erfolgreich sind, damit sie später gute Chancen auf einen gelingenden Berufseinstig und ein selbstbestimmtes Leben haben. 

Pflegekinder werden im schulischen Alltag oft als auffällig, unruhig, störend und aggressiv empfunden. Wie kommt es dazu?

In vielen Fällen ist die Schule für Pflegekinder aufgrund ihrer Situation eine grosse Herausforderung. Sie fallen auf durch fehlende Konzentrationsfähigkeit oder destruktives Sozialverhalten. Sie verhalten sich meist nicht so, weil sie es wollen und toll finden, sondern weil sie keine anderen Bewältigungsstrategien zur Verfügung haben. Es ist deshalb wichtig, dass die Fachpersonen die Betroffenen in der Erarbeitung neuer, konstruktiver Verhaltensweisen begleiten und unterstützen.

Wie gehen Lehrpersonen, Mitschülerinnen und Mitschüler oder auch deren Eltern damit um?

Das Pflegekinder-Thema macht vielen Angst. Es ist eine Blackbox: für Schulen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Es fehlt an Wissen darüber, was die Ursache für diese Verhaltensweisen ist und welche Herausforderungen Pflegekinder zu bewältigen haben. Hier ist Aufklärungsarbeit notwendig. Denn Unkenntnis fördert die Stigmatisierung. Stigmatisierung kann sich meiner Erfahrung nach sehr unterschiedlich zeigen: sowohl in einer Verteufelung als auch in einem gut gemeinten, aber falschen Schutz.

Gibt es konkrete Beispiele dafür?

In manchen Köpfen existiert das Bild, bei Pflegekindern handle es sich um «schlimme Finger», die bereits «einiges auf dem Kerbholz» hätten. Manche Eltern wollen nicht, dass ihr Kind sich mit einem Pflegekind anfreundet, weil mit diesem ja «etwas nicht stimmen» kann. Andere befürchten, dass die Freundschaft sowieso nicht von Dauer wäre, weil das Pflegekind schon bald wieder wegziehen könnte. Nebst Misstrauen ernten Pflegekinder manchmal aber auch grosses Erbarmen. Das führt dazu, dass sie von Lehrpersonen extra geschont werden. Durch diese Sonderbehandlung haben sie aber wieder den Sonderstatus, den sie nicht wollen.

In manchen Köpfen existiert das Bild, bei Pflegekindern handle es sich um «schlimme Finger», die bereits «einiges auf dem Kerbholz» hätten. Manche Eltern wollen nicht, dass ihr Kind sich mit einem Pflegekind anfreundet, weil mit diesem ja «etwas nicht stimmen» kann.
Was braucht es, damit ein Pflegekind die Schulzeit möglichst ohne Stigmatisierung absolvieren kann?

Wichtig ist eine den Betroffenen wohlgesinnte Zusammenarbeit aller Beteiligten. Pflegekinder brauchen zudem Vertrauenspersonen, die an sie glauben und die ihnen verstehend, wertschätzend und liebevoll begegnen. Eine solche Haltung ist Teil eines traumapädagogischen Grundverständnisses. Dieses basiert darauf, die Betroffenen in ihrer Resilienz zu fördern, in ihren Ressourcen zu stärken, in ihnen Spass und Freude zu wecken, sich ihnen gegenüber transparent zu verhalten und sie miteinzubeziehen. Der zentralste Aspekt dieses Grundverständnisses ist aber die «Annahme des guten Grundes». Wenn man anerkennt, dass herausfordernde Verhaltensweisen normale Reaktionen auf eine enorm hohe Stressbelastung sind und dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen bisher vieles überstanden und geleistet haben.

Jedes Verhalten hat also einen guten Grund?

Das Verhalten der Betroffenen, ob verbal oder körperlich, ist Ausdruck einer ursprünglichen Überlebensstrategie. Es richtet sich in der Regel nicht gegen die Personen in der Gegenwart, sondern bezieht sich auf die Vergangenheit. Deshalb ist es wichtig, sich zusammen mit dem Kind auf Spurensuche zu begeben und neue Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Mit Strafen oder Tadel zu reagieren, ist fehl am Platz. Natürlich entschuldigen Traumata nicht jegliches Verhalten. Bezugspersonen müssen auch Grenzen aufzeigen. Aber es braucht ein Verständnis dafür, warum das Kind so handelt wie es handelt.  Dieses Wissen rund um die Themen «Trauma» und «Pflegekinddasein» muss vermittelt werden und es muss eine Sensibilisierung stattfinden – sei es bei Lehrpersonen, Mitschülerinnen und Mitschülern oder deren Eltern.

Was ist genau mit «Überlebensstrategie» gemeint?

Ein Kind, das unterernährt war, weil es von seinen Eltern vernachlässigt wurde, fällt möglicherweise dadurch auf, dass es Nahrungsmittel hortet. Dieses Verhalten zeigt es auch noch dann, wenn es bei den Pflegeeltern lebt, wo es genügend zu essen bekommt. Es schleicht etwa heimlich zum Kühl- oder Vorratsschrank und bunkert das Essen in seinem Zimmer. Ein anderes Beispiel: Ein Kind läuft in Konfliktsituationen einfach davon. Denn es musste früher vielleicht zuschauen, wie Konfliktsituationen eskalierten und in Streit und Gewalt ausarteten. Beide Verhaltensweisen sind Überlebensstrategien, die es dem Kind in der Vergangenheit ermöglicht haben, sich zu schützen.

Jedes Pflegekind hat seine eigene Geschichte. Wie viel müssen Schule und Lehrpersonen darüber wissen?

Das ist fallabhängig – und es entspricht oft einer Gratwanderung, das richtige Mass zu finden: Erhält die Schule zu wenig Informationen, wirft das Fragen und Unsicherheiten auf. Zu viele Informationen hingegen können zu einer stärkeren Stigmatisierung und Vorverurteilung der Betroffenen führen. Es muss in jedem Fall mit dem Kind vorbesprochen werden, welche Details es preisgeben möchte. Wichtig ist zudem, es auf mögliche Fragen vorzubereiten. So kann es sich bereits Antworten zurechtlegen und gerät dadurch weniger in Erklärungsnot.

In Ihrer Arbeit zeigen Sie Handlungsmöglichkeiten für Fachpersonen aus dem schulischen und sozialarbeiterischen Umfeld sowie für Pflegeeltern auf. Sie betonen dabei auch die Bedeutung des traumapädagogischen Ansatzes sowie das Konzept der Selbstbemächtigung.

Die Selbstbemächtigung ist eines unter vielen traumapädagogischen Konzepten. Selbstbemächtigung bedeutet, dass die Kinder Stück für Stück das Gefühl für sich selbst wiederfinden und sich damit aus der traumabedingten Ohnmacht und Hilflosigkeit befreien. Sie lernen, sich selbst zu verstehen, sich zu akzeptieren, Empfindungen und Gefühle wahrzunehmen und zu regulieren. Selbstbemächtigung heisst aber zum Beispiel auch, Wissen darüber zu vermitteln, wie Traumata entstehen und welche Folgen sie haben. Solche Verstehensprozesse entlasten die Betroffenen von Schuld, Scham und Isolation und öffnen das Tor zu neuen, weniger selbst- und fremd-schädigenden Verhaltensweisen.

Wie lässt sich das zum Beispiel von einer Lehrperson umsetzen?

Methoden zum Erreichen der Selbstbemächtigung könnten gut in den Schulalltag integriert werden. Etwa durch Übungen zur Ausbalancierung von Körper und Geist wie sie beispielsweise im Yoga, Quigong vorkommen oder durch erlebnispädagogische Aktivitäten. Solche Bewegungssequenzen kommen allen Kindern zugute und das Pflegekind wird dadurch nicht exponiert. Auch wäre es denkbar, im Fach Natur, Mensch und Umwelt Kenntnisse über Traumata zu vermitteln. Etwa über das Konzept des dreigliedrigen Gehirns, das dabei eine wichtige Rolle spielt. Traumatisierten Kindern würde es helfen, alles aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Und für Nicht-Traumatisierte wäre es ein interessanter Exkurs. Die Lehrperson kann mit allen Kindern auf die gleiche Art und Weise arbeiten, es braucht keine Sonderbehandlung, alle sind integriert.

Inwiefern helfen Ihnen die Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit im Berufsalltag?

Die Arbeit hat mich und mein Team zusätzlich sensibilisiert. Ich selbst habe viel Sicherheit gewonnen in der Zusammenarbeit mit Schulen, beispielsweise in der Aufklärung und Beratung von Lehrpersonen. Dadurch kann ich konkrete Tipps geben und Fragen besser beantworten.

MAS Psychosoziale Beratung

Beratungsmethoden gehören zum alltäglichen beruflichen Handwerkszeug von Fachpersonen der Sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie und Pädagogik. Der MAS Psychosoziale Beratung schliesst die Lücke zwischen strikt psychotherapeutisch ausgerichteten Ansätzen und administrativ-rechtlichen Weiterbildungsangeboten des Sozialmanagements.

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