Schätzungsweise 70 Prozent aller Lernprozesse finden ausserhalb der Schule statt – zum Beispiel in der Familie oder in der Freizeit. Kinder und Jugendliche erwerben folglich einen grossen Teil ihres Wissens und ihrer Kompetenzen ausserhalb des Klassenzimmers. «Die Schule ist nur eine der Lebenswelten junger Menschen», sagt Martina Good, Leiterin des CAS Schulsozialarbeit an der OST. «Matchentscheidend für den Bildungserfolg ist der sozioökonomische Status», sagt sie. Deshalb bedürfe es einer Verknüpfung der Welten «Schule», «Eltern» und «Freizeit», um junge Menschen in ihren überfachlichen Kompetenzen gezielt zu fördern. Die Herausforderung dabei sei, einen gemeinsamen Fokus zu entwickeln und eine gemeinsame Sprache zwischen allen Beteiligten zu finden.
Martina Good
Leiterin CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule
Das Innosuisse-Projekt DIPALOG ist um diese gemeinsame Sprache bemüht. DIPALOG steht für den Dialog zwischen Lehrpersonen, Eltern sowie Kindern/Jugendlichen. Das Projekt hat zum Ziel, überfachliche Lebens- und Schlüsselkompetenzen (ÜLS) einzuschätzen und zu trainieren, die nicht zuletzt in der Phase der Berufswahl und in der Berufsbildung entscheidend sind. Konkret geht es um 36 sogenannte 21st century skills. Dazu gehören etwa Konfliktfähigkeit, Sorgfalt oder kritisches Denken. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Fähigkeiten, an denen sich der Lehrplan 21 orientiert. Ergänzend finden aber auch Kompetenzen aus WHO- und OECD-Konzepten Eingang.
«Die Förderung der Kinder und Jugendlichen steht bei DIPALOG klar im Vordergrund, nicht deren Bewertung», sagt Dölf Looser, Professor an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und Leiter des Projekts.
Doch wie funktioniert DIPALOG in der Praxis? Im Standortgespräch mit ihren Eltern und ihrer Lehrperson setzen die Schülerinnen und Schüler aufgrund einer computergenerierten Übersicht Schwerpunkte und entscheiden, in welchen Kompetenzen sie sich verbessern möchten. Anschliessend absolvieren sie während acht bis zwölf Wochen spezifische Trainingseinheiten dazu. «Zum Beispiel führt ein Schüler mit einer vertrauten Person aus seinem Umfeld ein Interview über die jeweilige Kompetenz durch und setzt sich auf diese Weise vertieft mit dem Thema auseinander», erklärt Dölf Looser. «So werden auch durch Bezugspersonen immer wieder Entwicklungsprozesse angestossen, die über die gesamte Volksschulzeit gesehen etwas bewirken können.»
Die Kompetenzorientierung ist ein zentrales Element des Lehrplans 21, den mittlerweile fast alle Kantone umgesetzt haben. Für Dölf Looser ist dennoch klar, dass die Schule mehr in überfachliche Fähigkeiten investieren sollte, um Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und im langfristigen Bildungs- und Lebenserfolg zu unterstützen. «In Mathe und Deutsch gibt es unzählige Prüfungen, aus denen die Lehrpersonen den genauen Notendurchschnitt berechnen», sagt er. Bei den überfachlichen Kompetenzen schaue man aber nicht so genau hin. So werde zum Beispiel bei der Kooperationsfähigkeit schnell mal ein Häkchen gesetzt, wenn eine Schülerin oder ein Schüler an einer Gruppenarbeit teilnehme, obwohl dies allein noch kein Garant dafür sei, dass diese Kompetenz tatsächlich vorhanden sei.»
DIPALOG bietet über alle Kompetenzen hinweg ein konkretes Messmodell inklusive diverser konkreter Trainingsmaterialien auf allen Stufen. Die Kinder und Jugendlichen eignen sich nicht nur Wissen an, sondern setzen sich Ziele, reflektieren ihr Verhalten und sprechen mit Bezugspersonen. Eine Einschätzung der Kompetenzerweiterung erfolgt nicht nur seitens der Lehrperson. Auch die Eltern geben anhand ihrer Erfahrungen, die sie mit dem Kind zuhause machen, Feedbacks ab. Und nicht zuletzt können auch Schülerinnen und Schüler darlegen, welche Entwicklungen sie bei sich beobachten konnten. «Alle erhalten die Möglichkeit, ihre Perspektive einzubringen», sagt Dölf Looser.
DIPALOG ist in den üblichen Unterrichtseinheiten während des Schuljahres eingebettet. Derzeit beteiligen sich neun Innovationsschulen am Projekt. Eine davon ist die Schule Rehetobel AR Andrea Schweizer ist die Fachstellenleiterin der Schulsozialarbeit AR der Mittellandgemeinden mit Stein, Wald und Rehetobel.
Andrea Schweizer
Fachstellenleiterin Schulsozialarbeit AR Mittelland
«Den Schulsozialarbeitenden kommt im Projekt insofern eine wichtige Rolle zu, als sie die Kinder und Jugendlichen beim Trainieren ausgewählter Kompetenzen unterstützen», sagt sie. Auch könne die Schulsozialarbeit für Gespräche hinzugezogen werden. Andrea Schweizer findet DIPALOG bereichernd. «Es ist spannend, wie durch das Projekt sowohl Lehrpersonen als auch Eltern den Blick auf Kinder und Jugendliche erweitern und zusammen einen Dialog über deren Kompetenzen führen.»
Auch ihre Berufskolleginnen und -kollegen stellen DIPALOG grundsätzlich ein gutes Zeugnis aus, wie ein Austausch im Rahmen des Community-Anlasses Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule gezeigt hat. Als wichtige Bedingung erachten sie es aber unter anderem, dass ein solches Projekt auch von der Schulleitung klar mitgetragen wird und dass genügend zeitliche Ressourcen vorhanden sind für das Coaching der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrperson. Zudem sei es zentral, Lehrpersonen und Eltern einzubeziehen angemessen zu coachen, damit dies in die Grundhaltung übergeht. Insgesamt biete das Projekt aber eine grosse Chance, die überfachlichen Kompetenzen mehr ins Zentrum zu rücken und Schule und Elternhaus einander näherzubringen.
Die Schulsozialarbeit bietet eine niederschwellige und beziehungsorientierte Anlaufstelle im schulischen Alltag. Eine Tätigkeit in diesem komplexen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit setzt spezifisches Wissen und Können voraus. Der CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule vermittelt entlang der Kinderrechtskonvention professionelle Kompetenzen und fördert die Kooperation zwischen Berufseinsteigenden und schulischen, schulnahen sowie familienergänzenden Fachstellen. Neu wird auch ein CAS Schulsozialpädagogik angeboten.