Autorin: Nora LĂĽthi, Mitarbeiterin Kommunikation Weiterbildung OST
Prof. Gabriella Schmid: Am 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und damit beginnen auch die Aktionstage. Sie enden am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Dieser Zeitraum umfasst 16 Tage.
Die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen sind eine internationale Kampagne mit dem Ziel, die Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam zu machen. Mit verschiedenen Veranstaltungen und Aktionen wollen Organisationen dazu beitragen, Gewalt an Frauen durch Prävention und Sensibilisierung zu verringern.  Ausserdem soll Betroffenen geholfen werden: Die Aktionstage weisen auf bestehende Unterstützungs- und Beratungsangebote hin. Jedes Jahr steht ein anderes Fokusthema im Mittelpunkt. Dieses Jahr drehen sich die 16 Tage um «Wege aus der Gewalt».
Gewalt an Frauen ist und bleibt auch in der Schweiz ein grosses Problem. Gewaltbetroffene Frauen müssen noch besser geschützt und unterstützt werden.
In den letzten Jahren hat es in der Schweiz viele Verbesserungen im Bereich der Gleichstellung und dem Schutz vor Gewalt gegeben – vor allem in rechtlicher Hinsicht. In der Realität sind wir aber noch lange nicht am Ziel. Gewalt an Frauen ist und bleibt auch in der Schweiz ein grosses Problem. Gewaltbetroffene Frauen müssen noch besser geschützt und unterstützt werden. Nach wie vor fehlen beispielsweise genügend Plätze in Frauenhäusern und ihre Finanzierung ist nicht überall gesichert. Beratungsstellen kämpfen ebenfalls mit knappen Ressourcen. Zudem sind einige Stellen nicht genügend sensibilisiert und auch die Prävention, wie zum Beispiel die Täterarbeit, wird nicht in allen Kantonen unterstützt. Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau wegen ihres Geschlechts getötet – dieses Jahr waren es bereits 18 sogenannte Femizide. In der Gesellschaft und in den Medien wird aber immer noch oft von Familiendramen gesprochen und damit die Gewalt verharmlost und individualisiert. Gewalt gegen Frauen ist jedoch ein strukturelles Problem. Deshalb gibt es auch hierzulande noch viel Bedarf für die Kampagne rund um die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen.
Prof. Gabriella Schmid war über 20 Jahre in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit tätig, unter anderem bei der Beratungsstelle Frauennottelefon in Winterthur und als Präsidentin im Vorstand des Frauenhauses Winterthur. Mit Anfang 20 ist sie in ihrem Studium der Sozialpädagogik auf Feminismus und Frauenrechte gestossen. Seither lassen sie diese Themen und die nach wie vor bestehenden Ungerechtigkeiten in der Schweiz nicht mehr los. Seit 2001 arbeitet Prof. Gabriella Schmid als Dozentin für Soziale Arbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und leitet den CAS Traumapädagogik und Traumaberatung zusammen mit Prof. Dr. Stephan Dettmers.
Für häusliche Gewalt ist es vielfach charakteristisch, dass sie eher subtil mit kontrollierendem Verhalten beginnt und nach und nach zu einem wiederkehrenden Zyklus führt – einer eigentlichen Gewaltspirale. In der Beziehung baut sich zunehmend Spannung auf, es kommt zu einem Ungleichgewicht in der Kommunikation und zu Grenzverletzungen, bis der eigentliche Gewaltausbruch geschieht. Hinterher zeigt der Täter oft Reue, entschuldigt sich und verspricht seiner Partnerin, dass es nie wieder vorkommen wird. Die betroffenen Frauen glauben daran und hoffen, dass sich die Situation verbessert. Irgendwann kommt es aber erneut zu Gewalt und der gleiche Zyklus beginnt von neuem. Die Gewalt wird meist mit jedem Zyklus heftiger und die verschiedenen Phasen folgen in immer kürzeren Abständen aufeinander. Mit jedem Zyklus werden die Macht des Täters und die Ohnmacht der Betroffenen grösser. Die Abhängigkeit und Ambivalenz der Betroffenen verstärken sich. Dabei spielt auch psychische Gewalt eine Rolle: Täter geben oft den Betroffenen die Schuld an der Gewalt und schieben die Verantwortung auf sie.
Hinzu kommen Angriffe auf das Selbstwertgefühl der Betroffenen durch Demütigungen und Erniedrigungen. Auch ökonomische Gewalt wie das Ausnützen der finanziellen Abhängigkeit der Frau oder soziale Gewalt wie Isolation können eine Rolle spielen. Zudem glauben viele Frauen, dass sie ihre Familie auseinanderreissen und ihren Kindern den Vater nehmen, wenn sie ihn verlassen. Sie haben Schuldgefühle und bleiben deshalb in der Gewaltbeziehung. Es gibt also viele Gründe, warum es gewaltbetroffenen Frauen schwerfällt, sich zu trennen und nicht zum Täter zurückzukehren.
Zunächst ist es wichtig, den Betroffenen klarzumachen, dass sie nicht für das verantwortlich sind, was ihnen angetan wird oder wurde. Ein Leben ohne Gewalt ist ein Menschenrecht – das muss man sich nicht erst verdienen.
In der Beratung habe ich die Erfahrung gemacht, dass es Frauen helfen kann, aus der Gewaltspirale auszubrechen, wenn sie wissen, dass sie nicht wegen der Kinder bei ihrem gewalttätigen Mann bleiben müssen. Die Kinder verlieren ihren Vater nicht automatisch. Solange den Kindern nicht auch Gewalt angetan wurde, kann der Vater ein Besuchsrecht erhalten. Auch die Konfrontation mit der Realität, dass die Kinder meist von der Gewalt wissen und darunter leiden, kann Wirkung zeigen.
Der Schritt aus der Gewalt gelingt oft, wenn die Frau unabhängig von ihrem Mann wieder in einen Alltag findet. Dabei können Fachpersonen die Betroffenen auf verschiedenen Ebenen unterstützen: Sie können helfen, die finanzielle Situation zu sichern und eine Wohnung sowie eine Arbeit zu finden. Fachpersonen können auch für eine angemessene rechtliche Vertretung in einem allfälligen Strafverfahren sorgen und ihnen – wenn sie das wünschen – eine Traumatherapie vermitteln, die ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Ziel ist es, den Frauen zu zeigen, dass sie über viele Ressourcen verfügen und trotz des Erlebten wieder ein «normales» Leben führen können.
Das Wichtigste ist, dass die Frauen selbst entscheiden, ob sie den Mann verlassen und Anzeige erstatten wollen. Wenn sie von Fachpersonen oder ihrem Umfeld dazu gedrängt werden, kehren die Frauen oft erst recht zu ihren gewaltausübenden Männern zurück und brechen die Beratung ab.
In der Beratung muss den betroffenen Frauen mit viel Verständnis und Sorgfalt begegnet werden. Fachpersonen dürfen sie nicht bevormunden, Druck ausüben oder den Frauen sagen, was richtig ist. Das Wichtigste ist, dass die Frauen selbst entscheiden, ob sie den Mann verlassen und Anzeige erstatten wollen. Wenn sie von Fachpersonen oder ihrem Umfeld dazu gedrängt werden, kehren die Frauen oft erst recht zu ihren gewaltausübenden Männern zurück und brechen die Beratung ab. Selbstbestimmung hat daher oberste Priorität, auch wenn das für Fachleute manchmal viel Geduld braucht.
Als Beraterin kann man zwar nicht rückgängig machen, was die Frauen erlebt haben. Aber man kann sie begleiten und unterstützen, damit es ihnen mit der Zeit wieder besser und irgendwann vielleicht sogar wieder gut geht. Bei der Beratungsstelle Frauennottelefon in Winterthur haben wir die gleichen Frauen oft über Monate oder Jahre hinweg begleitet. Gerade bei Strafverfahren dauert es oft mindestens zwei Jahre, bis der Prozess überhaupt beginnt. So bleibt man mit ihnen in Kontakt und kann auch die Fortschritte in der Verarbeitung ihres Traumas sehen. Viele Frauen konnten im Laufe der Zeit wieder mehr Handlungsspielräume entwickeln und Lebensqualität zurückgewinnen. Es ist eine schwierige, aber auch dankbare und bereichernde Arbeit für Fachpersonen.
Viele Menschen wollen mit dem Thema gar nichts zu tun haben. Sie verschliessen die Augen davor, welches Ausmass Gewalt an Frauen in der Schweiz und auf der Welt hat. Die Gefahr ist gross, dass das Thema in der Gesellschaft vergessen geht. Dabei können wir alle zu einer gewaltfreieren Gesellschaft beitragen. Es ist zum Beispiel wichtig, hinzuschauen und Zivilcourage zu zeigen. Ein Streit zwischen einem Paar in der Öffentlichkeit mag vielleicht harmlos aussehen, aber wenn man ein ungutes Gefühl dabei hat, ist es im Zweifelsfall sicher besser, nicht einfach wegzuschauen und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig die Polizei zu rufen.
Auf der anderen Seite könnte in der Prävention noch viel mehr getan werden. Ein grosser Risikofaktor für häusliche und sexualisierte Gewalt sind die patriarchalen Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Derzeit erleben wir ein breit abgestütztes Wiedererstarken von Sexismus und Frauenfeindlichkeit– zum Beispiel mit der Wahl von Donald Trump. Solche Figuren und ihre toxischen Männlichkeitsbilder stellen eine grosse Gefahr dar – sie prägen junge Männer. Wir alle können dazu beitragen, Sexismus nicht zu tolerieren und traditionelle Geschlechterrollen aufzubrechen, aber das ist leider ein langer Weg und braucht viel Ausdauer.
Fachpersonen in der psychosozialen Unterstützung und Begleitung sind zunehmend mit Menschen konfrontiert, die unter Traumata und deren Folgestörungen leiden. Der CAS Traumapädagogik und Traumaberatung vermittelt die Fähigkeit, den damit verbundenen Herausforderungen adäquat und kompetent zu begegnen und dabei das eigene psychische und physische Wohlbefinden nicht aus den Augen zu verlieren.
Dieser Artikel wurde als Erstpublikation auf weiterwissen.ch veröffentlicht.