«In der Schweiz sind wir schon verwöhnt»

Seit einem halben Jahr arbeitet und studiert Vera Kaelin (33) in Chicago. Ein Gespräch über Kulturunterschiede am Arbeitsplatz und bei der Kaffeekultur.

Das Interview findet in der Vorweihnachtszeit per Laptopkamera über gut 7100 Kilometer Distanz statt. Bei Vera Kaelin in Chicago ist es 9 Uhr morgens, sie sitzt im Gemeinschaftsraum ihres Büros an der UIC, der University of Illinois at Chicago. Dort absolviert die Ergotherapeutin FH derzeit ein Doktorat in Rehabilitation Sciences und arbeitet als Assistentin im «Children’s Participation in Environment Research Lab». Konkret geht es um Forschungsprojekte zur Partizipation von Kindern mit Einschränkungen und deren Familien. So ernst ihr Forschungsgebiet ist, so aufgestellt und fröhlich ist Vera Kaelin, die während des Gesprächs viel lacht.

Vera Kaelin, man meint die USA ja zu kennen. So anders als wir sind die ja nicht. Hatten Sie trotzdem einen Kulturschock?

Oh ja. Mehr als einen. Zum Beispiel die offene Armut. Als ich in Vietnam war, da hatte ich das erwartet. In Chicago eigentlich nicht. Doch Armut und damit verbundene Kriminalität ist hier schon deutlich sichtbarer und allgegenwärtiger als bei uns in Westeuropa. Auch mitten in der Stadt. Das hat mich teilweise schon etwas schockiert.

Beschreiben Sie mal Ihren Arbeitsplatz im «Lab» im Vergleich zu einem in der Schweiz.

Vieles ist ähnlich. Aber hier ist alles etwas einfacher und zweckmässiger. Da sind wir in der Schweiz schon verwöhnt. Unsere Gebäude sind solide gebaut, mit dicken Wänden, die Büroinfrastruktur ist meist hochwertig. Höhenverstellbare Pulte wären hier undenkbar. Aber ich habe alles, was ich brauche, es fehlt an nichts.

Was ist eher gewöhnungsbedürftig?

Im Sommer wird die Klimaanlage derart stark aufgedreht, dass ich mich im Büro warm anziehen muss. Jetzt im Winter ist es wiederum zu warm, weil man die Heizung offenbar nicht richtig regulieren kann. Jedenfalls ist das Fenster offen oder es läuft zusätzlich die Klimaanlage. Das Umweltbewusstsein der Amerikaner ist schon anders. Alles ist hier auf Bequemlichkeit ausgerichtet und weniger auf Nachhaltigkeit.

Steht in der Kaffee-Ecke bei euch auch so eine Filterkaffeemaschine, wie man sie aus den Filmen und Serien kennt?

Tatsächlich! (Sie hält den Krug lachend in die Kamera) Sie wurde gerade erst angeschafft. Vielleicht liegts an meinem hohen Kaffeekonsum (lacht laut), nein, unser Team ist allgemein gewachsen. Da lohnt sich eine Filtermaschine wohl eher als die bisherige Kapselmaschine. Aber es ist wirklich so: Am Morgen laufen hier alle mit riesigen Bechern, gefüllt mit Filterkaffee rum.

Wie sind die Arbeitsbedingungen? Haben Sie auch nur zehn Ferientage?

Ich habe drei Wochen Ferien, zusammen mit Feiertagen wie Weihnachten komme ich gar auf fünf Wochen. Das ist hier sehr grosszügig und absolut unüblich. Die Sozialleistungen sind natürlich deutlich spärlicher als in der Schweiz.

Wie erleben Sie das Alumniwesen?

Ich hatte zwar noch wenig Kontakt damit. Aber ich sehe, dass das Alumniwesen hier ausgeprägter ist, es herrscht ein anderes Bewusstsein, auch ein gewisser Stolz. So wird intern kommuniziert, wenn eine Alumni der UIC in den Medien erschienen ist – in jedem Kontext. Das kann eine bekannte Persönlichkeit sein oder auch ein Opfer eines tragischen Unfalls. Man ist wie eine Familie.

Das Interview in voller Länge erscheint im Magazin INLINE vom Februar 2019.

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