Es ist eine Frage, die viele Angehörige und Pflegende von Menschen mit Demenz beschäftigt: Warum verhalten sich die Betroffenen so, wie sie sich verhalten? Die Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz zu verstehen, ist eine wichtige Grundlage für deren Betreuung und Pflege. Heidi Zeller, Leiterin des Kompetenzzentrums Demenz des Instituts für Angewandte Pflegewissenschaft an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, spricht dabei von einem «herausfordernden Verhalten». Dazu gehören beispielsweise Unruhe, Angst, Apathie, Depression, Abwehr oder aggressive Reaktionen, Wahnvorstellungen, Klagen, Rufen, Schreien und Weglaufen. Allerdings müsse man sich immer wieder vor Augen halten, betont Zeller, dass sich die meisten Betroffenen nicht absichtlich herausfordernd verhalten. «Es ist ein Resultat der Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, und eine Reaktion auf eine Welt, die einem nicht mehr vertrauensvoll und verlässlich ist.»
Oft sei die Beurteilung von herausforderndem Verhalten auch sehr individuell und von der Toleranz der Pflegenden oder der Angehörigen geprägt. «Wenn die personellen Ressourcen da sind, um die Person, die unruhig ist oder ein hohes Laufbedürfnis hat, zu begleiten, ist es vielleicht gar nicht mehr herausfordernd, sondern ein Teil der Betreuung.» Wenn aber die Zeit fehle, dann könne ein solches Verhalten schnell herausfordernd für die Pflegenden oder Angehörigen werden. «Grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass das Verhalten für diejenige, die sich verhalten, immer einen Sinn hat, weil es ein sinnhafter Ausdruck der menschlichen Psyche ist», so Zeller.
Von Pflegenden und Angehörigen werde sie oft gefragt, wie lange ein solches Verhalten dauern werde. «Eine eindeutige Antwort kann ich darauf nicht geben», sagt die Leiterin des Kompetenzzentrums Demenz. Es gebe Verhaltensweisen wie depressive Verstimmung oder ausgeprägte Ängstlichkeit, die im Verlauf der Erkrankungen weniger auftreten, andere hingegen verstärkten sich. Was die Expertin aber sagen kann, ist, dass zunehmendes herausforderndes Verhalten durchaus auch mit einer Zunahme der kognitiven Defizite einhergeht, respektive auf ein Fortschreiten der Krankheit hindeuten kann.
Bei der Frage nach der Ursache von herausforderndem Verhalten ist Stress ein wichtiges Thema. «Menschen mit Demenz verfügen oft über eine abnehmende oder auch zum Teil niedrige Belastungsober- und Belastungsuntergrenze», sagt Zeller. «Sowohl ein Über- als auch ein Unterschreiten dieser Grenze können gewisse Verhaltensweisen verstärken.» Stressoren, die als belastend wahrgenommen werden, können Betroffenen an und über die Belastungsgrenze bringen, worauf sie mit ängstlichem Verhalten und Verhaltensänderungen reagieren. Es kommt zu einer Reduktion normalen normativen Verhaltens und zu einer Zunahme ängstlicher dysfunktionaler Verhaltensweisen. Stressoren können gemäss Zeller Erschöpfung, Veränderung der Umgebung, irreführende Reize, Überforderung, Schmerzen oder Verlusterlebnisse sein.
Eine weitere Möglichkeit, den Ursachen dieser Verhaltensweisen auf den Grund zu gehen, ist dahinter zu blicken. Dabei sollte überlegt werden, was für die Betroffenen bedeutungsvoll ist, welches Bedürfnis hinter diesem Verhalten stecken könnte und wie es im Umgang und in der Pflege auch erfüllt werden kann. «Hier geht man davon aus, dass herausforderndes Verhalten dann entsteht, wenn ein Bedürfnis oder eine Überzeugung einer Person nicht erkannt wird», erklärt die Expertin. Dabei sollten die wenig beeinflussbaren Hintergrundfaktoren wie neurologischer Status, Gesundheitszustand und psychosoziale Variablen sowie die direkten, eher beeinflussbaren Faktoren wie physiologische und psychosoziale Bedürfnisse sowie physikalische und soziale Umgebung gründlich angeschaut werden. Von diesen Erkenntnissen lassen sich dann auch die Behandlungsmöglichkeiten ableiten. Die Expertin plädiert dafür, mit den Interventionen möglichst früh zu beginnen, damit die Menschen mit Demenz gar nicht in die heikle Phase des herausfordernden Verhaltens kommen.
Klinische Behandlungsmassnahmen gebe es einige, wobei der Einsatz von Psychopharmaka immer der letzte Schritt in der Behandlung sein sollte, sagt Zeller. Viel wichtiger ist für sie, dass beispielsweise körperliche Krankheiten ursächlich behandelt und Pflegepraktika optimiert werden. Weitere Massnahmen sind Umgebungsanpassungen wie weniger Lärm und weniger Stress sowie psychologische Interventionen wie ein individuelles Musikrepertoire zusammenzustellen, eine Aromatherapie einsetzen oder tiergestützte Aktivitäten organisieren. «Diese psychologischen Interventionen sind vor allem im Sinne der Prävention gedacht», sagt Zeller. «Wenn eine Situation allerdings schon eskaliert ist, greifen solche Massnahmen nicht mehr.» Dann rät die Expertin zu folgenden Verhaltensweisen, die deeskalierend wirken können: «Treten Sie mit der Person in Kontakt, bleiben Sie bei den Fakten der aktuellen Situation und achten Sie darauf, was Sie sagen, und wie das Gesagte beim Gegenüber ankommt.» Eine gute Empfehlung gemäss Zeller ist auch das BANGS-Modell:
B = Breathe
A = Assess, Accept and Agree
N = Never argue
G = Go and let go
S = Say sorry
Menschen mit Demenz, ihr Lebensumfeld und das Betreuungsteam sind vor grosse Herausforderungen gestellt. Diese zu benennen, zu begründen und geeignete Interventionen im Umgang damit anbieten zu können, ist einer der Schwerpunkte des CAS Lebensweltorientierte Demenzpflege. Der Kurs vermittelt die Kompetenz, die Situation von Personen mit Demenz professionell einzuschätzen und geeignete Interventionen anzubieten.