32 Kugelschreiber, 5 Notizblöcke, 1 Laptop. Zielstrebig schreibe ich alle Objekte in meinem Zimmer auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit lässt meine Geduld jedoch nach. Schon über 500 Dinge habe ich in meinem Zimmer gezählt – und es sind noch lange nicht alle. Dafür bin ich nun um eine Erkenntnis reicher: Ich besitze zu viel Ramsch. So wie mir geht es auch vielen anderen. Laut einer Studie vom Statistischen Bundesamt in Deutschland besitzt nämlich jeder Mensch in Westeuropa rund 10'000 Dinge.
64 Gegenstände: Nur so viele gehören dem Schweizer Cédric Waldburger. Doch der 30-Jährige besitzt freiwillig so wenig. Er ist Minimalist. Dieser Lebensstil liegt im Trend. Dies zeigen besonders die unzähligen Blogs, Artikel und Videos, die zu diesem Thema existieren. Bewusst mit weniger leben, das ist die Philosophie hinter dem Begriff Minimalismus. Er wird als Gegenbewegung zu unserer heutigen Konsumgesellschaft verstanden. Der Minimalismus kann in allen Bereichen des Lebens angewendet werden. So gibt es beispielsweise Menschen, die in einem «Tiny House» – einer besonders platzsparenden Variante eines Hauses – wohnen oder Menschen, wie den Amerikaner Dave Bruno, der 2007 mit der «100 Things Challenge» eine Reduktion auf die 100 wichtigsten Güter vorgelebt hat.
Reduktion für ein besseres Leben: Der Minimalismus verspricht seinen Anwendern mehr Zeit, Geld und Freiheit. Die Minimalisten werden als ökologische Pioniere dieses Jahrhunderts gefeiert. Denn sie brauchen weniger Platz und Ressourcen. «Ihr bewusstes Leben scheint die Antwort auf drängende Umweltprobleme zu liefern», schreibt beispielsweise der Tagesanzeiger. Es ist eine Selbstoptimierung – im Kleiderschrank, im Zimmer und schliesslich im gesamten Leben. Doch muss man ein Minimalist sein, um heute ein glückliches Leben zu führen? «Nein», findet Selim Tolga. Der 40-Jährige ist seit über zehn Jahren professioneller Aufräum-Coach. «Minimalismus bedeutet nicht nichts, sondern keinen Ballast zu haben», heisst es auf seiner Website minimalismus.ch. Doch in einer aufgeräumten, nach einem System geordneten Umgebung zu leben, befreie, erhöhe die Lebensqualität und fördere die Produktivität.
Dabei gehe es nicht um die Anzahl Dinge, die jemand besitzt. «Vielmehr ist Minimalismus fĂĽr mich ein Lebensstil, bei dem es darum geht, nur mit Gegenständen zu leben, die man liebt und braucht», beschreibt Tolga, der sich selbst als Minimalist bezeichnet. Man richte sich ein einfaches Leben ein, reduziert in Bezug auf Besitz, Konsum, Verpflichtungen und Aktivität. Das Ziel: «freier zu leben und mehr Zeit zu haben.» Klingt in der Theorie einfach, fällt in der Praxis jedoch vielen Menschen schwer, wie auch der Aufräum-Coach weiss: «Die moderne Einkaufsmanipulation weiss genau, wie sie uns emotional an Dinge bindet. Wir identifizieren uns damit, sie geben uns Sicherheit. » Das liege vor allem daran, dass man emotional mit den Produkten verbunden sei oder viel Geld dafĂĽr ausgegeben habe. «Gibt man sie weg, trennt man sich folglich auch von einem StĂĽck Vergangenheit, gesteht Fehlkäufe ein und riskiert, dass man sie später doch vermisst», fasst Tolga zusammen.Â
Was für viele seit der Kindheit eine Qual ist, hat sich Tolga zum Beruf gemacht. Als professioneller Aufräum-Coach hilft er anderen dabei, sich von ihrem Ballast zu trennen und Ordnung in ihr Leben zu bringen. Zu seinen Kunden gehören vor allem Menschen über 45 Jahren. «Bei ihnen hat sich vieles angesammelt. Sie wollen sich neu erfinden. Einige leiden auch, weil sie alles verlegen und nicht mehr finden», sagt Tolga. Aber auch immer mehr junge Leute wenden sich an ihn. «Sie möchten mit einer einfachen Büro-Organisation effizient und produktiv arbeiten oder digital ausmisten.»
Das Aufräumen bringt laut dem Experten, der seine Tipps auch auf seinem YouTube-Kanal teilt, viele Vorteile. «Man kann sparen, denn das Aufbewahren kostet. Die Lagerung, die Pflege und die persönlichen Zeit- und Energieressourcen dürfen nicht unterschätzt werden», warnt Tolga. Ein weiterer positiver Effekt sei, dass man einen engeren Bezug zu den Dingen hat, wenn man die überflüssigen minimiert. «Hinzu kommt: eines Tages müssen wir ausmisten oder ein anderer tut es für uns, was in den meisten Fällen eine grosse Belastung für die betreffende Person ist.»
Tolga, der selbst um die 500 Dinge besitzt, hat seine Leidenschaft schon früh entdeckt. «Schon als Kind habe ich gerne aufgeräumt, angeordnet und vereinfacht. Irgendwann haben mich dann andere um Hilfe gebeten beim Aufräumen oder Organisieren.» Sein Geschäftsmodell kommt an, er kann gut davon leben. Seine Motivation sei es, Menschen mit dem richtigen Ordnungssystem zu einem leichteren und unbeschwerten Leben zu verhelfen. Denn das Loslassenkönnen sei in der heutigen Zeit umso wichtiger. «Wir leben in einer Wachstums- und Beschleunigungsgesellschaft. Wir sind ständig erreichbar, werden bombardiert mit Informationen und müssen in kürzerer Zeit mehr leisten.» Minimalismus ist eine Gegenbewegung und liegt genau deshalb im Trend, weil es den Nerv der Zeit trifft. «Die Menschen sehnen sich wieder nach mehr freier Zeit und einem leichteren Leben», erklärt Tolga.
Mehr Freizeit und ein erleichtertes Leben: so schön kann Aufräumen also klingen. Deshalb habe auch ich nach dem ersten Schritt, dem Zählen meiner Gegenstände, versucht, mich von einigen der Dinge zu trennen. Mit mehr oder weniger grossem Erfolg. Ich besitze nur noch 7 statt 32 Kugelschreiber.
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation im Brainstorm-Magazin erschienen.
1. Parkplatz:Â Jedes Objekt hat seinen festen Parkplatz, der praktisch und an jenem Ort definiert wird, wo man das Objekt braucht. Nach dem Gebrauch legt man das Objekt wieder dorthin.
2. Kosten:Â Aufbewahren kostet (Pflege, Unterhalt, etc.). Sich dessen bewusst zu sein, erleichtert das Loslassen.
3. Favoriten: Nicht dutzende Exemplare des gleichen Objekts horten. Es müssen zum Beispiel nicht zehn Kugelschreiber in der Schublade liegen, drei reichen aus. Das Gleiche gilt für Ferienfotos. Lieber sich auf 5 gute beschränken, statt 1000 mittelmässige zu wählen.
4. Behalten: Nur das, was man wirklich mindestens einmal pro Jahr braucht und einem langfristig Freude bereitet, darf bleiben. Geschenke und Vererbtes gehören nicht dazu, wenn man die Sachen nur aus ethischen Gründen behält.
5. Einkaufsliste: Eine Liste verhindert Spontankäufe von Dingen, die man eigentlich nicht braucht.
6. Geschenke: Erinnerungen statt Objekte wünschen – und dies dem Umfeld auch klar kommunizieren.
7. Feuer: Was wĂĽrde ich in letzter Minute retten, wenn es brennt? Es ist erstaunlich, wie schnell man so erkennen kann, was einem wirklich wichtig ist.
8. Limit setzen: Sich selber räumlich (kleinere Wohnung, weniger Möbel) und zeitlich limitieren.
9. Besitztum zählen: Das Zählen hat den Vorteil, dass man sich intensiv mit jedem Gegenstand beschäftigt und genau weiss, was man hat. Es hilft auch beim Loslassen. Die App «Minimalist Counter» kann dabei helfen.